Freitag, 29. Juli 2022

Buchrezension: Lilly Bernstein - Findelmädchen: Aufbruch ins Glück

Inhalt:

Köln 1955: Die 15-jährige Helga und ihr Bruder Jürgen leben endlich wieder bei ihrem aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vater. Von der Mutter fehlt seit Kriegsende jede Spur. Der Vater baut sich mit einem Büdchen eine neue Existenz auf, Jürgen beginnt bei Ford. Helga aber, die sich nichts sehnlicher wünscht, als aufs Gymnasium zu gehen, soll sich in der Haushaltungsschule auf ein Leben als Ehefrau vorbereiten. Während eines Praktikums im Waisenhaus muss sie entsetzt mitansehen, wie schlecht die Kinder dort behandelt werden. Schützend stellt sie sich vor ein sogenanntes "Besatzerkind". Und sie verliebt sich. Doch die Schatten des Krieges bedrohen alles, was sie sich vom Leben erhofft hat. 

Rezension: 

Nachdem Helga und Jürgen van Beek nach Ende des Zweiten Weltkrieges als verwaiste Findelkinder von einem Paar aus Frankreich aufgefunden wurden, die sich ihnen liebevoll annahmen, kehren sie im Januar 1955 nach Köln zu ihrem aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekommenen Vater zurück. Der Verbleib der Mutter Elisa ist weiterhin ungewiss. 
Der Vater hat sich mit einem kleinen Büdchen in Köln selbstständig gemacht, wo sich Helga gerne aufhält, in Illustrierten blättert und allein die Anwesenheit des Vaters genießt. Sie ist inzwischen 15 Jahre alt, wissbegierig und würde deshalb gerne auf das Gymnasium gehen. Ihr sonst so fürsorglicher Vater hat dafür kein Verständnis und auch die traumatisierte, schnippische Tante Meta ist Helga keine Hilfe. 
Helga wird auf der Haushaltungsschule angemeldet, wo sie sich mit ihren zwei linken Händen auf das Leben als Ehefrau vorbereiten soll, obwohl Helga noch keinen Gedanken an eine Ehe verschwendet. Während eines Praktikums in einem Waisenhaus in Sülz wird sie mit der harten Realität konfrontiert. Sie ist erschüttert, wie die strengen Nonnen mit den Kindern umgehen, die ohnehin schon so viel mitgemacht haben und fühlt sich an ihr eigenes Schicksal als "Kind aus der Gosse" erinnert. 
Dagegen ist der Wiederaufbau und die Euphorie eines Aufschwungs spürbar und so hofft auch Helga trotz aller Widrigkeiten und der Ungewissheit um die Mutter auf einen Neuanfang. 

"Findelmädchen - Aufbruch ins Glück" ist kein Nachfolgeband von "Trümmermädchen - Annas Traum vom Glück", handelt jedoch wieder in Köln und wenige Jahre im Anschluss. Helga denkt zudem noch an Anna und Karl vom Buttermarkt, die sie noch aus früher Kindheit kennt. 

Der Roman wird aus der Perspektive der Jugendlichen Helga geschildert, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg viel Schlimmes miterleben musste, die Vater und Mutter verloren hatte und sich allein mit ihrem einen Jahr älteren Bruder Jürgen durchschlagen musste. An ihren Vater hatte sie kaum mehr eine Erinnerung, aber dennoch fühlt sie sich in seinen Armen und in Köln sofort wieder heimisch. Sie ist ein etwas verschüchtertes, aber neugieriges, intelligentes Mädchen, das gerne liest und deshalb auf das Gymnasium gehen möchte, um noch mehr zu lernen. Sie, die im Haushalt schon immer ungeschickt war und deshalb so unsicher ist, soll sich stattdessen auf der Haushaltungsschule auf ihr Leben als Haus- und Ehefrau vorbereiten. 
Brav fügt sie sich in ihr Schicksal, kann jedoch nicht nur dabei zusehen, wie die Kinder im Waisenhaus emotional vernachlässigt, erniedrigt bis hin zu gewalttätig aufgezogen werden. Insbesondere das farbige "Besatzerkind" Bärbel hat es schwer, wird von anderen Kindern und den Nonnen drangsaliert und als minderwertig erachtet. 
Neben den schlechten Erfahrungen, die sie dort sammelt und sie daran erinnern lässt, wie gut es ihr im Vergleich dazu ergangen ist, freut sie sich für ihren Bruder, der eine Anstellung bei Ford hat und mit allerhand handwerklichem Geschick die Zimmer in ihrem Häuschen am Eigelstein renoviert. Auch Fanny, die bei ihnen aushilft, mag Helga gerne und staunt, wie die von ihr eröffnete Milchbar Leben in ihr Haus bringt. 
Milchshakes, Petticoats und Rock'n'Roll, Tanz und erste zaghafte Annäherungsversuche unter den Jugendlichen unter den strengen Augen der Erwachsenen, aber auch das verbliebene nationalsozialistische Gedankengut - der Zeitgeist der 1950er-Jahre und die Aufbruchstimmung ist spürbar und ein wunderbarer Kontrast zu dem Leid der frühen (Nachkriegs-)jahre und der Situation im Waisenhaus. 

Der Schreibstil von Lilly Bernstein ist liebevoll detailliert, einnehmend und so bildhaft, dass man sich problemlos in das Köln von 1955 versetzen kann. Auch in die sympathische, aufgeweckte und doch so zurückhaltende Helga kann man sich ohne Weiteres einfühlen. Spannung erzeugt dabei nicht nur ihr weiterer Werdegang und ihr Heranwachsen von einem verschüchterten "Findelmädchen" zu einer wagemutigen jungen Frau, sondern auch ob das Schicksal von Helgas und Jürgens Mutter geklärt werden wird. Durch ihre emotionalen Tagebucheinträge aus dem Jahr 1945, die sie an ihren Ehemann richtet und die sich zwischen die Kapitel einfügen, bleibt sie stets im Hintergrund der Geschichte. 

"Findelmädchen - Aufbruch ins Glück" ist eine authentisch geschilderter, herzerwärmender Roman über Hoffnung, Träume und die Suche nach Glück, die die Situation des Nachkriegsdeutschlands historisch aufwändig recherchiert und anhand der fiktiven Geschichte von Helga emotional bewegend darstellt. 

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