Montag, 29. November 2021

Buchrezension: Janet Skeslien Charles - Eine Bibliothek in Paris

Inhalt:

Montana, 1983. Auf der Suche nach Abenteuern lernt die zwölfjährige Lily ihre Nachbarin Odile kennen. Zwischen dem Teenager und der alten Dame entwickelt sich eine zarte Freundschaft. Doch als Lily mehr über die Vergangenheit Odiles herausfindet, stellt sie fest, dass diese unter einem tragischen Geheimnis leidet. 
Paris, 1939. Für Odile geht ein Traum in Erfüllung: Sie hat eine Anstellung an der renommierten Amerikanischen Bibliothek in Paris erhalten. Große literarische Werke in Händen halten und dabei den Duft alter Buchseiten einatmen – etwas Schöneres kann sich die Französin nicht vorstellen. Als die Nazis jedoch in Paris einmarschieren, droht Odile alles zu verlieren, was ihr lieb ist. Auch ihre Bibliothek. Gemeinsam mit einigen Mitarbeitern schließt sie sich dem Widerstand an und kämpft mit den besten Waffen, die ihr zu Verfügung stehen: Büchern. Doch dann unterläuft Odile ein fataler Fehler. 

Rezension: 

Die zwölfjährige Lily lebt in den 1980er-Jahren in der Kleinstadt Froid in Montana. Sie hat ein neugieriges Wesen und interessiert sich deshalb sehr für ihre Nachbarin Odile, eine lebensältere, elegante Französin, die verwitwet ist und zurückgezogen lebt. Als Lilys Mutter stirbt, fühlt sie sich noch einsamer und versucht über Französischstunden mehr über die geheimnisvolle Odile herauszufinden. Die beiden freunden sich an und Odile erzählt ihr aus ihrem Leben in Frankreich, als sie zur Zeit der deutschen Besatzung in einer amerikanischen Bibliothek in Paris arbeitete. 

Odile liebte schon immer Bücher, weshalb es für sie ein Traum ist, in einer Welt voller Bücher, einer Bibliothek, zu arbeiten. Entgegen der Vorstellungen ihrer Eltern bewirbt sie sich 1939 in der American Library und wird dort aufgrund ihrer Leidenschaft für Bücher eingestellt. Als der Krieg ausbricht, meldet sich ihr Zwillingsbruder Rémy freiwillig, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Odile kann dies nicht nachvollziehen und sorgt sich um ihren Bruder. Als Paris von den Deutschen besetzt ist, leistet sie jedoch wie von selbst Widerstand, indem sie Bücher aus der Bibliothek an Personen ausliefert, die diese nicht mehr betreten dürfen. Zudem verstecken sie und die anderen Mitarbeiter Bücher, um sie vor der Vernichtung zu retten und liefern Bücher an Die Front, um den Soldaten Mut zu machen und ein Zeichen der Solidarität zu senden. Ihre Mission ist nicht ungefährlich und schon bald werden die Reihen lichter. Lieb gewonnene Subskribenten werden verhaftet und in Internierungslager verbracht und den angestellten Amerikanern empfohlen, Europa zu verlassen, da mit einem Kriegseintritt Amerikas und folglich Problemen für feindliche Ausländer zu rechnen ist. 

"Eine Bibliothek in Paris" ist ein Roman, der auf zwei Zeitebenen handelt. Die Gegenwart, von 1983 bis 1988, erzählt von einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen den Generationen, während die Geschichte in der Vergangenheit von 1939 bis 1944 von der Kraft der Bücher und von einer Bibliothek als Zufluchtsort in einer schweren, kultur- und menschenfeindlichen Zeit erzählt. 
Die Geschichte in der Gegenwart macht neugierig darauf, was die Französin Odile in der Vergangenheit erlebt haben mag und weshalb sie gegenwärtig so zurückgezogen in Montana lebt. Über die Jahre hinweg entwickelte sich eine Freundschaft mit der jugendlichen Lily, die auf der Suche nach Halt und Geborgenheit und fasziniert von der älteren Dame ist. Durch die parallele Handlung in der Vergangenheit, auf der der Schwerpunkt des Buches liegt, erfährt man mehr über Odile und ihr Leben in Paris während des Zweiten Weltkrieges und was letztlich dazu geführt hat, dass sie nach Amerika emigrierte. 

Der Schreibstil ist bildhaft und liebevoll detailliert. Die Faszination Odiles für Bücher und ein selbstbestimmtes, freies Leben ist nachvollziehbar geschildert. Die Arbeit und der Alltag in der alles andere als verstaubten Bibliothek ist lebendig und authentisch beschrieben. Bezeichnend ist zudem, dass ein Teil der Menschen in der American Library, denen Odile begegnet, historisch belegte Persönlichkeiten sind, die die Macht der Bücher genutzt haben, um Widerstand gegen die deutsche Besatzung zu leisten. Es ist begeisternd zu lesen, was Bücher erreichen können und was diese Menschen geleistet und in Kauf genommen haben, selbst in den Fokus der Gestapo zu rücken. Die Verbindung von realen Ereignissen und realen Personen mit einer fiktiven Handlung ist gelungen und lebensecht warmherzig geschildert. Es fällt leicht, sich sowohl in Lily, aber vor allem auch in Odile als junge Frau hineinzuversetzen und ihre Wertvorstellungen zu teilen. 
Dieser bildhafte, historische Roman wird zudem durch eine Liebesgeschichte ergänzt, die durch die Belastungen der Protagonisten durch Naziterror und Bespitzelung nie in den Vordergrund rückt und zudem wunderschön zartfühlend erzählt wird. Er handelt von den Gräueltaten in düsteren Tagen, von Eifersucht und Denunziantentum und den Fehlern, die Menschen in schwierigen Zeiten begehen und damit selbst Freundschaften zerstören.  
Es ist ein vielschichtiger und feinfühlig geschilderter Roman mit starken Figuren und eine Hommage an Bücher und Bibliotheken, die Menschen verbinden und lebensrettend sein können. 

Samstag, 27. November 2021

Buchrezension: Valérie Perrin - Die Dame mit dem blauen Koffer

Inhalt:

Die quirlige und lebenslustige Justine lebt bei ihren Großeltern Eugénie und Armand, seit sie sich erinnern kann; ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Eugénie ist eine eher herbe Frau, und Armand spricht kaum mal ein Wort.
Ganz anders dagegen die 90-jährige Hélène, die Justine als Altenpflegerin betreut: Die meiste Zeit wähnt sich die alte Dame mit ihrem blauen Koffer am Strand, irgendwo im Süden Frankreichs, wo ihr Geliebter auf sie wartet. Peu à peu erzählt sie der 21-jährigen Justine die bewegende Geschichte ihrer großen Liebe, die während des Zweiten Weltkriegs nicht nur Verzweiflung und Verrat überdauern musste. Dadurch inspiriert, begibt sich Justine schließlich selbst auf Spurensuche in ihrer Familie und kommt dem tragischen Geheimnis hinter dem Tod ihrer Eltern auf die Spur. 

Rezension: 

Justine arbeitet als Pflegehelferin in einem Altenheim in dem französischen Dorf Milly. Sie betreut die Senioren mit großen Engagement und hört sich ihre Geschichten gerne an, weshalb sie unbezahlte Überstunden ohne Weiteres in Kauf nimmt. Besonders angetan hat es ihr die alte Dame Hélène, die sich am Strand wähnt und Justine von ihrer Liebe zu Lucien erzählt, der nach dem Zweiten Weltkrieg verschollen war. 
Seitdem Justines Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, lebt sie bei ihren Großeltern, die ihr wenig zu sagen haben. Als sie durch einen Zufall in Erfahrung bringt, dass es bei dem Verkehrsunfall ihrer Eltern Ungereimtheiten gegeben hat, versucht sie herauszufinden, was ihre Großeltern ihr verheimlichen mögen. 

Justine ist ein eigenwilliger Charakter, der unnahbar bleibt. Ihre Senioren im Altenheim hat sie ins Herz geschlossen und sie geht in ihrem Beruf auf. In ihrer wenigen Freizeit trifft sie sich mit einem Mann, dessen Namen sie nicht kennt, zum Sex. Der Kontakt zu ihren Großeltern und Cousin, der bei dem Verkehrsunfall ebenfalls seine Eltern verloren hat, ist wenig innig. 
Der Alltag der Familie ist monoton und so ereignet sich lange nicht viel, bis nach und nach aufgedeckt wird, was sich am Tag des Unfalls von Justines Eltern ereignete, wodurch der Roman doch noch Spannung erzeugt. 
Daneben wird die Lebensgeschichte der über 90-jährigen Hélène aus Zimmer 19 erzählt, die Justine in ihrem blauen Heft aufschreibt. Eine Interaktion zwischen beiden Frauen findet dabei eigenartiger Weise nicht statt. Auch ist nie so ganz klar, was nacherzählt wird und was Justine tatsächlich in ihrem Heft notiert hat, denn Hélène schweigt für gewöhnlich. Ich empfand diese Konstellation deshalb als wenig schlüssig. Auch die "große Liebe", die angeblich erzählt werden sollte, konnte ich nicht so nachempfinden. Hélène hatte Lucien eher aus anderen Gründen als aus Liebe geheiratet und auch als Lucien verschwunden war, wurde nicht deutlich, ob sie ihn überhaupt vermisst. 

Auch wenn ich die Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wenig gelungen fand, hatte jeder Erzählstrang seine unterhaltsamen Momente. In Bezug auf die im Klappentext euphorisch angekündigte Liebesgeschichte fehlten mir schlicht die Emotionen, weshalb mich Hélènes Lebensgeschichte nicht wirklich packen und berühren konnte. Die unerwarteten Abgründe, die sich jedoch in Justines Familie auftun, konnten mich dagegen weitaus mehr fesseln und trösteten auch darüber hinweg, dass die Charaktere wenig einnehmend waren und eine zunächst unerklärliche Melancholie verströmten. Erst spät bekam ein Gefühl für ihr Unglück und ihre Einsamkeit und Erklärungen für ihr Handeln. ungeahnten Charme hatte die Idee mit den Sonntagsblümchen und den fingierten Anrufen mit Todesnachrichten an die Angehörigen. 


Freitag, 26. November 2021

Buchrezension: Katrin Lankers - Kleine Wunder überall

Inhalt:

Manchmal kommt alles auf einmal. Eigentlich hat Charlotte im trubeligen Alltag mit Mann, Kindern und Job schon genug zu tun. Immer ist etwas wichtiger als ihre eigenen Pläne. Dann steht plötzlich auch noch ihre Mutter Barbara vor der Tür. Zwanzig Jahre zuvor verließ sie die Familie, um ein freies, unbeschwertes Leben auf Lanzarote zu führen. Nun ist sie krank und bittet ihre Tochter um Hilfe. Keine leichte Entscheidung für Charlotte.

Rezension: 

Charlotte ist 33 Jahre alt, Mutter zweier Töchter, arbeitet in Teilzeit in der Werbeagentur ihres Mannes und kümmert sich um den gesamten Haushalt. Sie beschwert sich nie, denn die Ansprüche an sich selbst sind groß. Sie möchte die perfekte Mutter, Hausfrau, Ehefrau und Tochter sein. 
Als ihre Mutter Barbara, die Mann und Tochter vor zwanzig Jahren verließ, überraschend von Lanzarote nach Deutschland zurückkehrt, gerät Charlottes Leben aus den Fugen. Ihre Mutter ist mittellos und an Krebs erkrankt, weshalb sie sich im Gästezimmer der Familie einquartieren darf. Die Enkelinnen sind begeistert von ihrer Hippie-Omi, aber Charlotte droht die gesamte Situation über den Kopf zu wachsen. Sie hatte Barbara nie verziehen, dass sie sie mit dreizehn Jahren im Stich ließ, aber peu à peu kommen Dinge ans Licht die die Situation von damals in einem anderen Licht stehen lassen. Mutter und Tochter nähern sich an, doch wie viel gemeinsame Zeit bleibt ihnen noch?

"Kleine Wunder überall" ist eine abwechslungsreiche, unterhaltsame und wendungsreiche Geschichte. Protagonistin Charlotte, aus deren Perspektive der Roman verfasst ist, ist eine sympathische Frau, die allerdings zum Perfektionismus neigt und keine Kontrolle abgeben kann. Das Verlassenwerden durch die Mutter hat sie nachhaltig geprägt, weshalb sie für ihre Töchter eine bessere Mutter sein möchte. Auch musste sie durch das alleinige Zusammenleben mit ihrem Vater früh Verantwortung übernehmen und managt den Haushalt und das Familienleben quasi allein. Ihre eigenen Träume und Ambitionen bleiben außen vor, selbst beruflich hat sie sich angepasst und arbeitet in der Agentur ihres Mannes. 

Der Schreibstil ist lebendig und es ist einfach, sich in Charlotte und ihren trubeligen Alltag hineinzuversetzen. Auch wenn manche Szene etwas überzeichnet ist und man stets auf die nächste kleinere oder größere Katastrophe gewappnet ist, die Charlotte erneut das Leben schwermacht, ist der Roman keinesfalls einfältig. 
Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter wird schrittweise aufgearbeitet, während sich Charlotte und Barbara einander wieder näher kommen. Auch muss Charlotte schmerzhaft begreifen, dass sie und Markus an ihrer Ehe arbeiten müssen und es nicht nur ausreicht, sich um die Töchter zu kümmern und die Agentur am Laufen zu halten. 
Der Roman ist realitätsnah und beschreibt den Alltag so, wie er sich in vielen Familien gestaltet. Der Umgang mit der Krebserkrankung ist behutsam und gerät erst am Ende der Geschichte in den Fokus. Es ist berührend zu sehen, wie Charlotte trotz allem für ihre Mutter kämpft - sich erneut aufreibt - aber auch verständlich, dass Barbara in ihrer schier hoffnungslosen Situation keine Kraft mehr zu kämpfen hat. 

"Kleine Wunder überall" ist eine feinfühlige Geschichte über eine Mutter-Tochter-Beziehung, die trotz manch schwieriger Themen, die es zu bewältigen gilt, unterhaltsam ist und keinerlei Schwermut verbreitet. 

Mittwoch, 24. November 2021

Buchrezension: Alina Bronsky - Das Geschenk

Inhalt:

Peter und Kathrin, Almut und Klaus waren einmal eng befreundet: Als ihre Kinder noch klein waren, waren die beiden Paare unzertrennlich. Doch nun sind die Söhne und Töchter längst aus dem Haus, und die einstigen Freunde haben sich aus den Augen verloren. Peter und Kathrin haben Klaus zuletzt auf Almuts Beerdigung vor ein paar Jahren gesehen. Ausgerechnet als Peter und Kathrin das erste Weihnachtsfest zu zweit planen, um dem üblichen Trubel der Festtage zu entkommen, meldet sich Klaus wieder bei ihnen: ob man nicht wieder Weihnachten zusammen verbringen könne. Das Paar ist widerwillig bereit, einem untröstlichen Witwer beizustehen. Als Peter und Kathrin jedoch im Wochenendhaus in der hessischen Provinz einen glücklich verliebten Klaus an der Seite der viel jüngeren Sharon antreffen, bricht ihre Welt zusammen. Dass Sharon als Einzige in der Runde Lust hat, Weihnachten auf die kitschigste Art zu zelebrieren, macht die Begegnung nicht leichter. Ein Weihnachten voller Verwicklungen und Offenbarungen nimmt seinen Lauf, dass alle vermeintlichen Selbstverständlichkeiten auf den Kopf stellt. 

Rezension:

Kathrin und Peter wollten in diesem Jahr Weihnachten einmal nur zu zweit verbringen und dem Trubel entfliehen. Da erreicht sie ein Anruf von Klaus, einem alten Freund, der inzwischen verwitwet ist und lädt sie zu sich in sein Wochenendhaus ein. Beide sind schockiert, als ihnen die Tür von einer jungen Frau geöffnet wird, die Klaus' Tochter sein könnte. Es stellt sich jedoch heraus, dass es sich um seine neue Lebensgefährtin handelt, die die Krankenschwester seiner verstorbenen Ehefrau Almut war. Die Stimmung ist angespannt, ein Gefühl von einem harmonischen Weihnachtsfest will sich nicht einstimmen. 

Die Geschichte wirkte auf mich wenig weihnachtlich, denn das Treffen der vier Personen hätte auch an jedem anderen Wochenende des Jahres stattfinden können. Das Weihnachtsfest ist der Anlass spielt jedoch im weiteren Verlauf nur eine untergeordnete Rolle. Die Kurzgeschichte handelt stattdessen von den Beziehungen der Menschen untereinander und den Vorurteilen, die Menschen fast schon selbstverständlich entwickeln, wenn ein mittelalter Mann nach dem Tod seiner Ehefrau eine Liebesbeziehung mit einer deutlich jüngeren Frau eingeht. 
Dabei wird nicht mit Klischees gespart. Kathrin und Peter reagieren vorhersehbar und übertrieben schockiert - schließlich ist Almut schon einige Jahre tot und Klaus ein erwachsener Mann, der seine eigenen Entscheidungen treffen kann. Die neue Freundin Sharon wird allerdings auch sehr plakativ als dummes Blondchen dargestellt: das kleine Fellknäuel als Hund, die pinken Strähnen, ihre einfältigen Aussagen... Dass sich die Konstellation mit Sharon und Klaus dann doch etwas anders herausstellt, gibt der Geschichte dann doch noch etwas Tiefgang. Auch dass in der Beziehung zwischen Kathrin und Peter etwas im Argen liegt überrascht. Das kommt jedoch so aus heiterem Himmel, dass ich diesen Kniff nicht wirklich überzeugend fand. Viel mehr störte mich allerdings, dass sich Kathrin und Peter an die letzten Treffen mit Klaus und Almut kaum erinnern können. Was sollten diese Erinnerungslücken? Ich habe es nicht verstanden. Der Geschichte gibt es keinen Mehrwert. Ich fragte mich nur, wer eigentlich mit wem jemals befreundet gewesen ist und ob sich die Freunde tatsächlich wirklich kannten. Auch Almut hatte schließlich ihr Geheimnis. 

"Das Geschenk" wird als schwarzhumorig und ungewöhnliche Erzählung beschrieben, eine witzige und hintergründige Geschichte um die Verstrickungen des Ehelebens. Ich empfand die Geschichte jedoch weder als humorvoll, noch besonders tiefgründig. Sie hatte eher etwas von einer stumpfsinnigen Seifenoper und übte plump Kritik an den irgendwie zutiefst menschlichen Vorurteilen. 

Montag, 22. November 2021

Buchrezension: Catherine Mavrikakis - Der Himmel über Bay City

Inhalt:

Bay City, 1960: Am Ende der Veronica Lane wird ein Wellblechhaus abgeliefert, eine Familie zieht ein. Zwei Schwestern, Denise und Babette, bringen nacheinander waschechte amerikanische Babys zur Welt. Das kriegsverheerte Europa haben sie hinter sich gelassen, denn damals scheint die Zukunft in Amerika zu liegen, diesem Kontinent, in dem alles neuer, bunter, fröhlicher ist.
Die Geschichte lässt sich aber nicht verdrängen. Amy, die Tochter von Denise, wird von den Toten heimgesucht und macht eines Tages im Keller des kleinen Wellblechhauses eine verstörende Entdeckung. 

Rezension:

Die beiden Schwestern Babette und Denise wandern 1959 von Frankreich nach Amerika ein, um Europa und alle Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg hinter sich zu lassen. Sie wohnen in den 1960er-Jahren gemeinsam in einem Wellblechhaus in Bay City, nachdem die Ehe von Denise und ihrem Ehemann gescheitert war. Beide haben sie Kinder, die 1961 geboren wurden, Denise noch einen jüngeren Sohn. Ihre erste Tochter ist nach der Geburt gestorben und dennoch durch wöchentliche Besuche auf dem Friedhof allgegenwärtig. Die zweite Tochter Amy leidet darunter, nicht mit der Erstgeborenen mithalten zu können, obwohl diese nie gelebt hat. Zudem macht sie im Keller des Hauses eine verstörende Entdeckung, die sie neben ihren Alpträumen in den Wahnsinn treiben. 

"Der Himmel über Bay City" ist eine Geschichte, in der Realität und (Wahn-)vorstellungen verschwimmen. Die Ich-Erzählerin Amy ist verstört, sieht Dinge, die nicht sein können, wird in ihren Träumen von Toten heimgesucht und hat Visionen vom Holocaust, den sie nicht miterlebt hat. Auch wenn sie in Amerika geboren ist, fühlt sie sich fremd und heimatlos. Nur durch einen Zufall findet sie heraus, dass ihre Mutter und Tante jüdischer Abstammung sind. Ihre Mutter Denise schenkt ihr keine Liebe, verstößt sie geradezu, während ihre Tante Babette die aufgrund ihrer Visionen verehrt. 

Der Roman ist anstrengend zu lesen, denn Amy erzählt, wie es ihr in den Sinn kommt, unstrukturiert und unchronologisch, während der Roman auf wenige Tage vor ihrem 18. Geburtstag am 4. Juli 1979 beschränkt ist. Zudem ist auch der Inhalt sehr düster und beklemmend. Amy berichtet von ihrer Kindheit und ihrer Zukunft, in der sie selbst Mutter sein wird. Dabei sind ihre Gedanken stets dem Tod näher als dem Leben. Sie hat einen sehnlichen Wunsch nach Erlösung, möchte alles hinter sich lassen - auch die Vergangenheit der Generationen vor ihr, die sie belastet. Amy trägt alles Leid der Welt auf sich, hat eine unfassbare Wut in sich, einen Hass auf Gott und die Welt. 
Die Geschichte ist metaphorisch geschrieben, düster und gruselig. Der Roman handelt von den Nachkommen von Auschwitz, deren Geister der Vergangenheit sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht loslassen und der verzweifelten Sehnsucht nach Erlösung. All die Jahre nach 1944/1945 sind jedoch wirkungslos geblieben, die Zeit hat keine Wunden geheilt und auch das gelobte Land Amerika konnte selbst für die nachfolgenden Generationen keinen Schlussstrich ziehen und einen Neuanfang bieten. 
Der Roman ist eine einzige Anklage an Gott, die Welt und den blasslila Himmel über Bay City. Warum Amy sich mit diesen schrecklichen Gedanken quält und was sie an ihrem 18. Geburtstag wirklich getan hat, um vermeintlich für Erlösung zu sorgen, bleibt mir dabei zu vage und lässt mich mit einem großen Fragezeichen zurück.  

Samstag, 20. November 2021

Buchrezension: Sabine Schoder - Liebe ist was für Idioten. Wie mich.

Inhalt:

Optimistisch gesehen ist Vikis Leben eine Vollkatastrophe. Da kann man schon mal aus Frust ein paar Tüten zu viel rauchen. Und es kann auch passieren, dass man nach einem Konzert mit dem Sänger der Band im Bett landet, obwohl man den eigentlich total bescheuert findet.

Wirklich.
Kein großes Ding.
So was passiert.
Aber ausgerechnet Viki?
Nein!
Ganz.
Sicher.
Nicht.
Oder vielleicht doch? 

Rezension: 

Viki hat es nicht leicht in ihrem Leben. Ihre Mutter ist an Krebs verstorben, ihr Vater ein Alkoholiker, der seine Wut an seiner Tochter auslässt und sich und ihre Wohnung verwahrlosen lässt. Viki gibt sich stark, ist jedoch mit ihrem Leben überfordert. In der Schule hat sie Probleme, in vielen Fächern steht sie vor einem Ungenügend und der einzige Halt in ihrem Leben bildet ihre beste Freundin Melanie. 
Als Viki an ihrem siebzehnten Geburtstag einen Joint zu viel raucht, landet sie mit Jay im Bett, dem Sänger einer Schülerband, den sie eigentlich überhaupt nicht leiden kann. Am nächsten Morgen hat sie kaum mehr eine Erinnerung an den Abend und was passiert ist, aber Jay geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die beiden können nicht voneinander lassen und so öffnet sie Jay auch ihr Herz. Doch Jay hat etwas zu verbergen, was Viki an ihrer Beziehung zweifeln lässt. 

Viki ist ein siebzehnjähriges Mädchen, die ihre Probleme gern mit sich selbst ausmacht und ihre Emotionen hinter einer Fassade aus Zynismus und Ironie verbirgt. Der Roman ist aus ihrer Perspektive geschrieben, so man hinter die Mauern blicken kann, die sie aufgebaut hat und aufgrund ihres familiären Hintergrunds ihre Wut und Ängste verstehen kann. Jay bleibt dagegen etwas undurchsichtig, denn auch er verbirgt etwas, das er nicht preisgeben möchte, was der Geschichte die nötige Spannung verleiht. 
Die Charaktere sind vielschichtig, haben ihre Ecken und Kanten, und hinter der typischen Teenie-Coolness verbergen sich zwei fürsorgliche und verletzlich Persönlichkeiten. Die Dialoge sind spritzig und amüsant, denn beide haben eine ironische Art und können wunderbar mit Worten umgehen. Die Geschichte hat deshalb humorvolle Szenen, auch wenn stets eine gewisse Düsterheit mitschwingt. 
Auch wenn sich beide Protagonisten schnell annähern und aus der körperlichen Liebelei bald mehr wird, ahnt man, dass dies noch nicht das Happy End ist, sondern dass es noch zu einer Katastrophe kommen wird. 

"Liebe ist was für Idioten. Wie mich." ist ein spannender und unterhaltsamer Young Adult-Roman mit problembehafteten Figuren, die durch die Liebe zu einander lernen, was es heißt, zu vertrauen und Gefühle zuzulassen. Der Roman handelt von Alkoholmissbrauch, Drogen und Vernachlässigung, wobei man nie die Hoffnung verliert, dass Viki aus ihrem sozialen Milieu ausbrechen kann und dass auch Jay nicht im Drogenrausch versumpft. Die Mischung aus Drama, Romantik und Humor ist ausgeglichen und durch den wortwitzigen Schreibstil ist die Geschichte auch für lebensältere Leser durchaus unterhaltsam und mitreißend, hätte jedoch gegen Ende etwas gestrafft werden können.

Freitag, 19. November 2021

Buchrezension: Rachael English - Das geheime Band

Inhalt:

Seit fast 50 Jahren bewahrt die irische Krankenschwester Katie ein Geheimnis auf, gut versteckt im hintersten Winkel ihres Kleiderschranks: eine Kiste mit Armbändern. Sie stammen von Babys, die in den 70er-Jahren gegen den Willen ihrer Mütter zur Adoption freigegeben wurden. Katie sieht die Zeit gekommen, Mütter und Kinder endlich wieder zu vereinen. Denn hinter jedem Armband verbirgt sich eine Geschichte voller Herzschmerz und Hoffnung, und jedes Kind hat ein Recht auf die Wahrheit. Aber ist Katie auch bereit, sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen? 

Rezension: 

Seit fast fünfzig Jahren hat Katie Caroll in ihrem Kleiderschrank eine Schachtel mit Armbändern und einem Notizbuch versteckt. Der Inhalt stammt aus ihrer Zeit als Krankenschwester in Carrickbrack, einem katholischem Heim, in welchem ledige Mütter abgeschottet von der Außenwelt ihre Babys zur Welt bringen konnten, die anschließend zur Adoption frei gegeben wurden. Katie hat die Identitäten der Mütter und Kinder festgehalten und ist nun nach dem Tod ihres Mannes bereit, ihre Informationen preiszugeben, um die längst erwachsenen Kinder mit ihren leiblichen Müttern zu vereinen. Zusammen mit ihrer Nichte Beth veröffentlicht sie in einem Onlineforum ein Post und erhält schon bald viele Anfragen. 
Jede Suche ist anders, die einen lassen sich leichter finden als andere, manche wollen nicht gefunden werden und andere sind schlicht nicht bereit, sich der Vergangenheit zu stellen oder ihr gegenwärtiges Leben durcheinander zu bringen. Und auch Katie selbst birgt ein Geheimnis und kann sich nur schwer ihrer eigenen Vergangenheit stellen. 

Der Roman beruht auf wahren Geschichten, denn solche katholischen Mutter-Kind-Heime gab es in Irland in den 1960er- und 1970er-Jahren tatsächlich - und nicht nur dort. Auch wenn die Autorin die schlimmsten Grausamkeiten, die sich in solchen Einrichtungen ereigneten, ausspart, berühren die Einzelschicksale der hilflosen Frauen und ihrer Kinder in "Das geheime Band". Der Umgang der Ordensschwestern mit den "Büßerinnen" war schlicht unmenschlich, die Schwangeren mussten bis zum Tag der Niederkunft hart arbeiten, ihre Babys wurden ihnen früher oder später entrissen und selbst mussten sie abhängig von der Unterstützung ihrer Eltern noch mehrere Monate nach der Geburt dort arbeiten, um ihren Aufenthalt zu finanzieren. Dabei waren sie weiterhin den Drangsalierungen der Nonnen ausgesetzt. 
Diese Rückblicke in die Vergangenheit sind beklemmend und fesselnd zugleich, wobei Katies Rolle in Carrickbrack zunächst im Dunkeln bleibt. 

Die Gegenwart rund um die Suche von Katie und Beth ist abwechslungsreich, denn jede Begegnung mit den Müttern oder Kindern verläuft anders. Explizit werden drei der Schicksale ausführlicher dargelegt, was der Geschichte Tiefe verleiht. Alle Geschichten zu den knapp fünfzig Armbändern hätten den Umfang des Romans gesprengt, der ohnehin bereits viele Charaktere enthält, so dass es nicht immer ganz einfach ist während der Perspektivwechsel den Überblick zu behalten. 

"Das geheime Band" ist eine emotionale, aufwühlende Geschichte über ein trauriges, dunkles Kapitel der irischen Vergangenheit. Die Art und Weise, wie gläubige Ordensschwestern Schwangere und junge Mütter behandelten, ist schockierend und macht wütend. Gleichzeitig ist schön zu lesen, wie die Mädchen zusammenhielten und sich in der schwierigen Zeit beistanden. Auch die Episoden in der Gegenwart sind bewegend, denn noch aktuell ist die Existenz solcher Heime ein Tabuthema, was es den Betroffenen erschwert, ihre Herkunft zu erforschen. Darüber hinaus ist es erhebend und hoffnungsvoll zu lesen, was aus den Müttern und ihren Kindern geworden ist, die trotz eines schweren Starts ihr Leben erfolgreich meisterten. 

Mittwoch, 17. November 2021

Buchrezension: Lisa Jewell - Wo immer du sein magst

Inhalt:

Manchmal ist die erste Liebe wie ein Feuerwerk - so auch bei Vince und Joy, bei denen es sofort funkt. Die erste Nacht ist für beide das erste Mal - und unvergesslich. Doch am nächsten Morgen ist Joy verschwunden, nur einen Zettel findet Vice noch vor, mit den vom Regen verwischten Worten: "Ich schäme mich".
Jahre später erzählt Vince einer guten Freundin von seiner Liebe, und diese setzt sich in den Kopf, Joy wiederzufinden. Es gelingt ihr auch sie aufzuspüren, doch dummerweise steht diese gerade kurz vor der Hochzeit. Schlechtes Timing oder Schicksal? Denn in den folgenden Jahren laufen die beiden, die doch füreinander bestimmt zu sein schienen, sich immer wieder über den Weg - und doch immer wieder aneinander vorbei. 

Rezension: 

Vince und Joy lernen sich mit 18 Jahren bei einem Urlaub mit ihren Eltern auf einem Campingplatz kennen und verlieben sich Hals über Kopf in einander. Als Joy nach einer gemeinsamen Nacht überraschend abreist und Vince nur einen unleserlichen Brief hinterlässt, ist dieser wie vor den Kopf gestoßen. Beiden gehen von falschen Voraussetzungen aus, weshalb keiner versucht, mit dem anderen Kontakt aufzunehmen, was im Jahr 1986 ohnehin schwieriger gewesen wäre, als zur heutigen Zeit. 
Sieben Jahre später finden sie heraus, dass sie nur wenige Straßen voneinander entfernt in London gewohnt haben, sich jedoch nie begegnet sind. Joy steht kurz vor ihrer Hochzeit, weshalb Vince nicht versucht, sich in ihr Leben zu drängen. 
Beide leben sie ihre Leben unabhängig voneinander weiter, führen Beziehungen und trennen sich wieder. Weder privat noch beruflich sind ihre Leben erfüllend und so denken sie immer mal wieder an ihre erste Liebe zurück, Unsicher über ihre Gefühle unternehmen sie jedoch nichts, um sich nach all den Jahren wieder zu treffen und herauszufinden, ob sie eine gemeinsame Zukunft haben könnten. 

Der Roman um Joy und Vince erzählt eine Geschichte, wie man sie schon häufig gelesen hat. Zwei Seelenverwandte finden sich, verlieren sich aus den Augen und leben Jahre nebeneinander her, obwohl abzusehen ist, dass das Schicksal sie für einander bestimmt hat. Auch "Wo immer du sein magst" ist so aufgebaut, kommt jedoch ganz ohne Kitsch und übertriebene Dramatik aus und stellt nicht nur auf die Frage "Was wäre, wenn?" ab. Auch fehlt es an ach so zufälligen Begegnungen oder plakativen Missverständnissen, die ein Zusammenfinden verhindern könnten. 

Die Geschichte wird abwechselnd aus der Sicht von Joy und Vince erzählt, wodurch man erfährt, wie es in beiden Leben ohne den jeweils anderen weitergegangen ist. Dabei wechseln die Kapitel nicht nacheinander ab, sondern es werden mehrere Kapitel hintereinander aus Sicht der einen Figur geschildert, so das man nicht abrupt aus deren Leben herausgerissen wird und sich sehr gut in den jeweilige Charakter und seine Gefühlswelt hineindenken kann. Beide Seiten sind interessant und erzählen von Familie und Beruf, von Freunden, aber vor allem auch von der Liebe. Dabei wird deutlich, das beide zwar immer wieder verliebt sind, aber nicht den richtigen Partner für sich gefunden haben. 

Die Geschichte ist unterhaltsam und authentisch. Sie ist aus dem Leben gegriffen und zeigt die Unsicherheit über Gefühle und die Frage, mit was man sich zufrieden geben sollte. Ich habe sowohl gerne über Joy und ihr verkorkstes Liebesleben, als auch über Vince und seine absurde Arbeit als Werbetexter für Porzellanpüppchen oder die Entfremdung von seiner Lebensgefährtin, gelesen. 
Dabei bleibt die Spannung kontinuierlich aufrechterhalten, ob es zu einer Begegnung von Joy und Vince kommen wird und wie sie als Erwachsene zu einander stehen. Träumen sie einfach nur nostalgisch einer Teenagerliebe hinterher, die sich nie entwickeln konnte oder hätten ihre Gefühle auch im Alltag Bestand? 

Ich habe zuletzt die aktuellen Spannungsromane von Lisa Jewell gelesen, aber auch diese schon etwas ältere Liebesgeschichte, die noch viel mehr als Romantik, Sehnsucht und Herzschmerz enthält und insbesondere durch die Entwicklung der Charaktere überzeugt, konnte mich auf ihre ruhige, unaufgeregte Art in ihren Bann ziehen. 

Montag, 15. November 2021

Buchrezension: Beverly Jensen - Die Hummerschwestern

Inhalt:

New Brunswick, Kanada. Ein kleines Haus am Rande einer zerklüfteten Steilküste. Hier leben die Schwestern Idella und Avis nach dem Tod der Mutter allein mit ihrem chaotischen Vater. In einer Welt, die aus nichts als Kartoffelfarmen, Hummerfallen, rauen Männern und harter Arbeit zu bestehen scheint. Wäre da nicht die liebenswerte Maddie, das französischsprachige Dienstmädchen, das sich nach einer Familie sehnt. Und der schrullige Doktor, der ein schreckliches Geheimnis hütet. Und natürlich Avis’ störrische Kuh Bossy, die eines Tages beinahe im Schlamm versinkt. Über sieben Jahrzehnte hinweg begleiten wir die unvergesslichen Schwestern von Kanada nach Neuengland, wo Idella in ihrem Gemischtwarenladen in Maine kauzige Einheimische bedient, während ihr Mann anderen Frauen nachstellt. Und wo Avis an einem stürmischen Wintertag etwas ganz Entscheidendes verliert. 

Rezension:

Als Idellas und Avis Mutter bei der Geburt ihres vierten Kindes stirbt, sind die beiden sechs und knapp acht Jahre alt. Der Vater Bill, ein Farmer und Hummerfischer, ist dem Whiskey stark zugeneigt und mit der Erziehung seiner Kinder überfordert. Sein Sohn Dalton lebt in der Scheune, um seinem Vater aus dem Weg zu gehen. Die Mädchen sind für den Haushalt zuständig, bis Bill eine französische Haushaltshilfe, Madeleine, engagiert, die selbst ihre Geheimnisse birgt, sich aber von der schroffen Art von Bill nicht abschrecken lässt. Als es fast zum Eklat kommt, entlässt Bill Maddie und schickt seine beiden Töchter zu seiner Schwägerin nach Maine. Dort erhalten sie die Chane, drei Jahre zur Schule zu gehen, bis ihr Vater sie nach einem Jagdunfall wieder zu sich holt. 
Wenige Jahre später verlassen Idella und Avis ihr Elternhaus, um in die USA zu emigrieren. Während Avis ihr unabhängiges Leben genießt, ordnet sich Idella zunächst als Hausmädchen ihren Arbeitgeberinnen unter und heiratet später Edward, dessen Mutter die gesamte Familie vereinnahmt. 

Der Roman erzählt eine 70-jährige Familiengeschichte, beginnend im Jahr 1016. Der Fokus liegt zunächst auf dem Zusammenleben der Familie Hillock nach dem tragischen Tod der Mutter im Kindbett, bevor das Leben von Idella als erwachsene Frau in den Mittelpunkt rückt. Idella ist eine sympathische junge Frau, deren Leben fremdbestimmt ist. Erst erledigt sie zuverlässig die Arbeiten für ihren Vater, dann kümmert sie sich um die Familie ihres Ehemannes. Sie ist zufrieden, denn sie hat keine Erwartungen oder Träume. 

Die Geschichte ist unterhaltsam und spanend erzählt, da stets eine unterschwellige Dramatik vorhanden ist und auch immer wieder etwas passiert, dass die Familie nachhaltig beeinflusst und bewegt. Die Autorin starb, bevor sie den Roman beendigen konnte, weshalb er aus einzelnen Kurzgeschichten besteht, was insbesondere durch die Zeitsprünge in den Leben der Charaktere auffällt, aber sonst nicht weiter störend ist. 

Es ist eine besondere Geschichte, denn die Charaktere sind einzigartig und selbst der schroffe Vater auf seine Art liebenswert. Der Verlauf ihrer Leben ist nicht vorhersehbar und auch die eigentümliche Atmosphäre auf der Farm der Hillocks an der Ostküste Kanadas, aber auch bei Idellas Schwiegereltern im amerikanischen Boston sorgen für Spannung. 

Der Beginn der Geschichte ist fesselnd und auch das Heranwachsen von Idella und Avis, den beiden ungleichen "Hummerschwestern", ist interessant geschildert. Anschließend hat der Roman seine Längen, da es ihm an Dramatik mangelt, was jedoch durch das bewegende Ende wieder ausgeglichen wird. 



Samstag, 13. November 2021

Buchrezension: Ruth Druart - Ein neuer Morgen für Samuel

Inhalt:

Paris, 1944: Sarah und David sind im Lager Drancy inhaftiert. Gerüchte über Todeslager machen die Runde, und die beiden ahnen, dass sie in ein solches abtransportiert werden. Sie bangen um ihr Leben. Und um das Leben ihres neugeborenen Sohns Samuel. Sie sind bereits auf dem Weg in den Waggon, als Sarah in einem Akt purer Verzweiflung ihr Baby dem Gleisarbeiter Jean-Luc in die Arme drückt. Sie fleht ihn an, Samuel zu retten. Gemeinsam mit der jungen Krankenschwester Charlotte stellt Jean-Luc sich dieser Aufgabe, und die drei wagen die gefährliche Flucht in die USA.

Rezension: 

1944 ist Paris von den Deutschen besetzt und nur knapp einen Monat nach der Geburt ihres  Sohnes werden Sarah und David verhaftet. Als sie sich auf dem Weg in ein "Arbeitslager" befinden, übergibt Sarah ihr Baby Samuel einem französischen Bahnarbeiter um ihn zu retten, denn sie befürchtet, dass die Fahrt mit dem Zug, der an einen Viehtransport erinnert, eine Reise ohne Wiederkehr ist. 
Jean-Luc, der für seine Arbeit für die Deutschen als Kollaborateur gilt, aber tatsächlich die Schreckensherrschaft der Boches kaum ertragen kann, und bereits versucht hat, die Gleise zu manipulieren, nimmt sich des kleinen Samuel an und schafft es zusammen mit seiner Freundin Charlotte in die USA zu flüchten. Sie bauen dort gemeinsam mit Sam ein neues Leben auf, bis sie 1953 die Nachricht erreicht, dass Sams Eltern noch am Leben sind und Jean-Luc wegen Kindesentführung verhaftet wird. 

"Ein neuer Morgen für Samuel" ist ein emotionaler, historischer Roman, der die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs aus Sicht der französischen Bevölkerung darstellt, die unter der deutschen Besatzung leiden. Eine Woche bevor die Alliierten in Frankreich landen, werden Sarah und David verhaftet, da sie Juden sind. Geistesgegenwärtig lässt Sarah ihr neugeborenes Kind aus Liebe zurück und klammert sich an den Gedanken, dass Samuel überlebt hat. Zeitgleich setzen Charlotte und Jean-Luc, die gedanklich auf Seiten der Résistance standen, ihr Leben aufs Spiel, indem sie mit dem kleinen Baby nach Amerika flüchten. Der Abschied Sarahs geht zu Herzen, aber auch wie mutig sich Charlotte und Jean-Luc für ein fremdes Kind einsetzen, dessen Eltern sie auch nicht kennen. 
In Amerika leben sie in Freiheit, auch wenn sie ihre Heimat Frankreich vermissen. Aus Angst, dass Samuel von einer jüdischen Familie hätte adoptiert werden können, haben sie ihre Verhältnis zu Sam nie vor den Behörden klargestellt. Als sie erfahren, dass Samuels Eltern Auschwitz überlebt haben, ist dies ein Schock und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, für die kleine Familie grausam und herzzerreißend. Charlotte und Jean-Luc lieben Sam über alles und haben nie offen mit ihm über seine Herkunft gesprochen. Der Neunjährige kennt seine leiblichen Eltern nicht und soll nun in einem ihm fremden Land ein neues Leben anfangen. 

Der Roman ist abwechselnd aus der Perspektive aller Beteiligten geschrieben, so dass man sich sehr gut in die Figuren, ihre Lebenssituation hineinversetzen und ihre Gefühle nachvollziehen kann. Durch den Wechsel der Zeiten zwischen 1944 und 1953, der Orte Paris und Kalifornien ist der Roman abwechslungsreich und fesselnd. Alle Charaktere und ihre widersprüchlichen Gefühle sind authentisch dargestellt. Ihre innere Zerrissenheit und die Fragen, wer, was, wann richtig oder falsch gemacht hat, lassen auch die/ den Leser*in nicht los. Ihre Schicksale berühren und es erscheint schier aussichtslos, die richtige und eine gerechte Entscheidung für Sam zu treffen. 

Er wurde von einem Mann gerettet, der nun dafür im Gefängnis sitzt. Er ist bei Menschen aufgewachsen, die ihm seine leiblichen Eltern vorenthalten haben. Er soll nun bei fremden Menschen in einem Land leben, dessen Sprache er nicht spricht. 

Wie dieser Konflikt gelöst wird, ist spannend, eindringlich und sehr berührend geschrieben, ohne dass die Geschichte melodramatisch oder kitschig wird. Die Fragen von Herkunft, Heimat und Familie, aber auch die Gefühle von Angst, Mutterliebe, von Schuld und von Entscheidungen, die man aus Verzweiflung oder Liebe und zum Wohl eines anderen trifft, werden vielschichtig behandelt, so dass man selbst von dem Gewissenskonflikt aufgewühlt wird und von der Stärke der Charaktere beeindruckt ist. Wie nah Freude und Leid, Glück und Unglück nebeneinander liegen können, kann man anhand des Schicksals der beiden Familien nachdrücklich erkennen. 

Freitag, 12. November 2021

Buchrezension: Arno Strobel - Sharing: Willst du wirklich alles teilen?

Inhalt:

Markus und seine Frau Bettina fanden den Gedanken, dass man nicht alles besitzen muss, um es zu nutzen, schon immer gut. Diese Philosophie liegt auch ihrem Sharing-Unternehmen zugrunde. Möglichst viele sollen Autos und Wohnungen teilen und so für mehr Nachhaltigkeit sorgen.
Bis Bettina in die Hand eines Unbekannten gerät, im Darknet öffentlich misshandelt wird und das Teilen plötzlich eine andere Dimension annimmt. Wenn Markus seine Frau lebend wiedersehen will, muss er tun, was Bettinas Peiniger sagt. Ausnahmslos, bedingungslos. Und ein Spiel mitspielen, das er nicht gewinnen kann. Auch wenn er bereit ist, alles auf eine Karte zu setzen. 

Rezension: 

Markus und Bettina Kern sind Inhaber eines sehr erfolgreichen Car- und Wohnungssharing-Unternehmens. Sie haben eine fünfzehnjährige Tochter und führen ein unbeschwertes Leben bis eines Abends Bettina nicht nach Hause kommt und Markus einen Anruf erhält, dass seine Frau mit anderen "geteilt" werden soll. Im Darknet ist ein Live-Video zu sehen, indem Bettina brutal misshandelt wird. Markus ist verzweifelt und hat keine Chance gegen den Erpresser. Am nächsten Morgen findet er seine Ehefrau tot auf, seine Tochter verschwindet und er selbst gerät unter Mordverdacht. Auf der Flucht und auf der Suche nach seiner Tochter spielt der Täter ein perfides Spiel mit ihm, denn auch Leonie soll wie bereits ihre Mutter "geteilt" werden. 

Der Thriller ist aus der Perspektive des Familienvaters Markus geschildert. In einzelnen Kapiteln wird auch die Sicht von Leonie dargestellt und wie sie unter der Entführung zu leiden hat. 
Markus hat bald einen Verdacht, wer hinter der Ermordung und Entführung seiner Tochter steckt, aber alle Indizien sprechen gegen ihn, weshalb die Polizeibeamten ihm nicht glauben und er stattdessen unter dringenden Tatverdacht gerät. Beim verzweifelten Versuch, seine Tochter zu retten, muss Markus verschiedene Aufgaben lösen, die ihm der Täter stellt. Es beginnt ein rasantes Katz- und Mausspiel und ein Wettlauf gegen die Zeit, bei dem Täter und Opfer wischen. Durch Wendungen beginnt man auch als Leser an Markus zu zweifeln, denn es ist kaum vorstellbar, welche Spuren der Entführer legt und wie es ihm gelingt, so ein grausames Spiel zu betreiben. 
Die Bewältigung der Aufgaben zieht sich etwas in die Länge, obwohl die kurzen Kapitel häufig mit Mini-Cliffhangern enden, so dass man unweigerlich gezwungen ist, weiterzulesen. Der Sharing-Gedanke ist der Aufhänger des Thrillers und der Tat des Täters und führt den Leser auf raffinierte Weise auf eine falsche Spur, denn das Teilen ist in einem anderen, viel größeren Sinn, gemeint. 

"Sharing - Willst du wirklich alles teilen" ist ein dynamischer Thriller, der sich leicht lesen lässt. Der Racheplan, den der Täter inszeniert ist dabei so aufwändig, dass die Konstruktion der Geschichte schon nicht mehr ganz realistisch ist. Die vielen Aufgaben, die Markus bewältigen muss, hätte es nicht gebraucht, um ihm aus Angst um seine Tochter derart unter Druck zu setzen. Zudem empfand ich das Motiv des Täters im Vergleich dazu enttäuschend und das Spiel, das er mit Markus betreibt, zu übertrieben. Spannend war der Thriller durch die zahlreichen Wendungen, durchaus, das Ende jedoch lieblos abgekanzelt. 

Mittwoch, 10. November 2021

Buchrezension: Catriona Innes - Das perfekte Date

Inhalt:

Caitlin Carter führt ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Ihr Mann Harry und sie sind ein absolutes Traumpaar und ihre erfolgreiche Dating-Agentur könnte nicht besser laufen. Denn jeder will das, was sie hat: den perfekten Partner und eine Hochzeit wie im Märchen! Täglich versorgt Caitlin tausende begeisterte Instagram-Follower mit neuen Bildern ihres gemeinsamen Alltags. Doch niemand ahnt, was wirklich hinter der perfekten Fassade steckt und welch trauriges Geheimnis Caitlin bisher für sich behalten hat. 

Rezension: 

Caitlin ist Inhaberin einer Dating-Agentur, die sie noch traditionell betreibt. Statt auf Apps und Algorithmen achtet sie lieber auf ihr Bauchgefühl und findet so den perfekten Partner für ihre Klienten. Ganz ohne Werbung und Social Media kommt aber auch ihr Start-Up nicht aus, weshalb sie sich dem Druck ihrer Marketingexpertin beugt, ihr eigenes Leben und ihr Liebesglück mit Ehemann Harry in Szene zu setzen. Caitlin lebt das perfekte Leben, aber es ist alles nur eine perfekte Inszenierung, die so lange aufrechterhalten bleibt, bis Caitlin zusammenbricht und sich ihren Problemen stellen muss. 

Cover und Titel suggerieren eine romantische, humorvolle Liebesgeschichte. Wer jedoch eine unbeschwerte Chic-Lit-Romanze erwartet, könnte von dem Roman enttäuscht werden. 
Die Geschichte vermittelt von Anbeginn eine eher betrübliche Stimmung und trotz Caitlins Leidenschaft für ihren Beruf und den Glauben daran, für jeden Menschen den perfekten Partner zu finden, ist zu spüren, dass in Caitlins Leben etwas im Argen liegt. Ihre Beziehung zu Harry bleibt vage, so dass es für den Leser wie auch für Caitlins Freunde und Bekannte nicht klar ist, wie es um ihre Beziehung bestellt ist oder ob Harry einfach nur nichts mit der Dating-Agentur zu tun haben möchte. 
Bis das Geheimnis um Harry gelüftet wird, dauert es fast schon ermüdend lange. Sodann wechselt der Schwerpunkt des Romans weg von Caitlins Beruf und die Sorgen um ihren Ruf sowie die Suche nach erfolgversprechenden Influencern weg zu ihren privaten Problemen und einem tragischen Ereignis, das sie bisher nicht verarbeitet hat. 
Die Freundschaft zu Verity gibt ihr Halt, ihr gegenüber kann sie sich öffnen und ehrlich sein, reflektiert ihr Verhalten und beginnt, ihr Leben vor allem beruflich umzukrempeln. 

Durch die Thematik um Dating, Social Media, der (Online-)Suche nach dem passenden Partner und dem Einfluss von Instagram und Facebook ist der Roman modern und handelt von aktuellen Problemen der Generation Y und insbesondere von dem Druck, der durch das Vorleben von Stars und Sternchen, die sich perfekt in Szene setzen, entsteht. 
Im Fall von Caitlin eröffnet sich jedoch noch ein ganz anderes Themenfeld, das ihr Leben verändert hat, mich jedoch nicht so sehr berühren konnte, da nur Bruchstücke aus ihrer Vergangenheit bekannt werden. So konnte ich mich nicht richtig in Caitlin hineinversetzen und auch die anderen Charaktere blieben nur sehr oberflächlich beschrieben. Die Geschichte plätscherte nach einem therapeutischen Aufenthalt auf den Malediven nur noch ereignislos vor sich hin und zudem sich Caitlin mit ihrer Agentur für meinen Geschmack viel zu wichtig. 

"Das perfekte Date" handelt weniger von unterhältlichen Dating-Episoden als viel mehr von Freundschaft und Verlust, vom schönen Schein, der der Öffentlichkeit präsentiert wird und der Einsamkeit, die tatsächlich dahintersteckt. Für mich war die Geschichte durch den seltsamen Aufbau jedoch nicht ganz rund, die Charaktere zu flach und die Geschichte trotz der vorhersehbaren propagierten Botschaft nach mehr Authentizität letztlich nichtssagend.  

Montag, 8. November 2021

Buchrezension: Anne Gesthuysen - Wir sind schließlich wer


Inhalt:

Die Bürger der Gemeinde Alpen sind skeptisch, als Anna von Betteray die Vertretung des erkrankten Pastors übernimmt. Schließlich ist sie geschieden, blaublütig, mit Mitte dreißig viel zu jung für den Posten und eine Frau. Der einzige Mann an ihrer Seite: ihr Hund Freddy. Während Anna versucht, ein dunkles Kapitel ihrer Vergangenheit zu bewältigen und die Gemeinde behutsam zu modernisieren, gerät das Leben ihrer Schwester Maria komplett aus den Fugen. Ihr Mann wird verhaftet, kurz darauf verschwindet auch noch ihr Sohn. Ausgerechnet sie, die in den Augen der standesbewussten Mutter die Vorzeigetochter war, die auf Schützenfesten zur Königin gekrönt wurde und einen Grafen heiratete, während Anna mit schmutzigen Hosen im Stall spielte und sich in die falschen Männer verliebte. Erst in der Not überwinden die Schwestern ihre Gegensätze – und erhalten Unterstützung von überraschender Seite. Denn wenn es darum geht, einen kleinen Jungen zu finden, halten die Alpener fest zusammen. Und allen voran: Ottilie Oymann aus dem Seniorenstift Burg Winnenthal! 

Rezension: 

Als Anna von Betteray in dem Dorf Alpen am Niederrhein, in dessen Nähe sie aufgewachsen ist, die Vertretung des erkrankten Pastors übernimmt, ist nicht nur die langjährige und unverschämt indiskrete Haushälterin der Pfarrei skeptisch, ob die junge Frau der Aufgabe gewachsen ist. Schnell entstehen Gerüchte über verschiedenste Affären, die die Geschiedene mit den ledigen Männern des Dorfes haben soll. Dabei ist das einzige männliche Wesen an ihrer Seite ihr treuer Goldendoodle Freddy. 
Ernsthaft kann sich Anna ohnehin nicht mit dem Dorftratsch beschäftigen, da ihre ältere Schwester Maria ihre Unterstützung braucht. Ihr Ehemann, der wie die von Betterays adeliger Abstammung ist, wurde wegen Steuerhinterziehung verhaftet und anschließend verschwindet auch noch Annas elfjähriger Neffe Sascha, der wegen seines kriminellen Vaters in der Schule gemobbt wird. Die Fassade von Maria beginnt zu bröckeln, die im Gegensatz zur wilderen Anna stets die Vorzeigetochter ihrer Mutter war. Durch das Unglück kommen sich die beiden ungleichen Schwestern wieder näher und sogar die dem Landadel gegenüber missgünstigen Dorfbewohner Alpens helfen bei der Suche nach dem vermeintlich entführten Sascha. 

Neben dem Skandal um die Verhaftung und das negative Bild, das damit auf die auf den schönen Schein wahrende Familie von Betteray geworfen wird, steht insbesondere das Verhältnis der beiden ungleichen Schwestern Anna von Betteray und Maria von Moitzfeld im Vordergrund. Vier Jahre Altersunterschied trennen sie und zwei ungleiche Persönlichkeiten. Während Anna noch nie Angst davor hatte, sich die Finger schmutzig zu machen, der Wildfang der Familie war, besonders ihrem Vater nahe stand, an die falschen Männer geriet und mit Mitte Dreißig bereits geschieden ist, hat sich Maria als Prinzessin und Liebling der Mutter Mechthild stets deren Erwartungen gebeugt und einen standesgemäßen Grafen geheiratet. 
Anna, die Kummer gewöhnt ist, zeigt in der Krisensituation, dass sie die stärkere der beiden Schwestern ist, denn die einst so disziplinierte Maria hatte schon längst die Kontrolle über ihr eigenes Leben verloren und agiert nun kopflos. 

Trotz des Unglücks, das auf die Familie von Betteray hereinbricht und der bitteren Vergangenheit Annas, die lange im Verborgenen bleibt, ist der Roman unterhaltsam und vielfach überraschend humorvoll geschrieben. Die Geschichte wirkt lebensnah, die Charaktere sind authentisch und das verschlafene Dorf mit den antiquierten Ansichten der Bewohner lässt sich bildhaft vorstellen. Der Neid und der Unmut, der gegenüber dem Landadel herrscht, der aus Langeweile und Sensationslust verbreitete Dorftratsch und auch die Überheblichkeit des Adels, die durch Maria und Mutter Mechthild verkörpert wird, mögen etwas überspitzt dargestellt sein, machen die Geschichte aber auch so lebendig und unterhaltsam. 
Anna ist ein warmherziger Charakter, der sich durch nichts unterkriegen lässt und sich nicht nur in ihrer Eigenschaft als Pastorin aufopferungsvoll um andere kümmert. Vorbildhaft unterstützt sie Maria und ihre Mutter, obwohl diese ihr das Leben schwergemacht haben und auch in der gegenwärtigen Situation wenig Dankbarkeit zeigen. 
Einblicke in das Verhältnis der beiden Schwestern erhält man insbesondere durch Rückblicke in die Vergangenheit, die aus der Perspektive Marias erzählt werden. Auf diese Weise fällt es auch leichter zu verstehen, weshalb sich Maria, die schon immer fremdbestimmt war, so unbeholfen und garstig verhält. 
Neben den Enthüllungen, die sich im Rahmen der Ermittlungen der Polizei über die Familie auftun, wird die Entführung fast zur Nebensache. Annas Großtante Ottilie, die nichts auf ihre adelige Abstammung gibt, lockert die Stimmung durch ihre resolute, gleichzeitig aber auch besonnene und altersweise Art auf, ohne dass dies im Alter mit Anfang 90 zu aufgesetzt wirkt.

Die Geschichte hat Charme, aber in einzelnen Situationen driftete die Dramödie fast in Richtung Klamauk ab. Auch wurde mir in Gegenwart einer Alkoholikerin entschieden zu viel Alkohol getrunken. 
Nichtsdestotrotz ist "Wir sind schließlich wer" eine gelungene Familiengeschichte, die von Zwängen, hohen Erwartungen und gesellschaftlichen Konventionen, von Selbstbestimmung und der ungleichen Dynamik innerhalb einer Familie handelt, für die der äußere Schein stets das Wichtigste war. Emotional und spannend ist geschildert, wie die Mauern einreißen, wie Standesdünkel abgeschüttelt werden und wie zwei Schwestern sich nach Jahren der Distanz wieder näher kommen. Den Rahmen bildet eine abenteuerliche Entführungsgeschichte, die allerdings am Ende etwas langatmig wird, da man als Leser den Hintergrund schneller durchschaut, als die Protagonisten. Letztlich steht eher Unterhaltung als Tiefgang im Vordergrund, da Probleme nicht wirklich gelöst werden und auch Annas Vergangenheit nur sehr vage bleibt. 

Samstag, 6. November 2021

Buchrezension: Sebastian Fitzek - Playlist (Augen-Reihe, Band 3)

Inhalt:

Vor einem Monat verschwand die 15-jährige Feline Jagow spurlos auf dem Weg zur Schule. Von ihrer Mutter beauftragt, stößt Privatermittler Alexander Zorbach auf einen Musikdienst im Internet, über den Feline immer ihre Lieblingssongs hörte. Das Erstaunliche: Vor wenigen Tagen wurde die Playlist verändert. Sendet Feline mit der Auswahl der Songs einen versteckten Hinweis, wohin sie verschleppt wurde und wie sie gerettet werden kann? Fieberhaft versucht Zorbach das Rätsel der Playlist zu entschlüsseln. Ahnungslos, dass ihn die Suche nach Feline und die Lösung des Rätsels der Playlist in einen grauenhaften Albtraum stürzen wird. Ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit, bei dem die Überlebenschancen aller Beteiligten gegen Null gehen. 

Rezension: 

Die 15-jährige Feline Jagow wurde auf dem Weg zur Schule entführt, eine Lösegeldforderung geht nicht ein. Stattdessen wird Feline vier Wochen später in einem Transporter gefesselt vor ihrem Elternhaus abgestellt. Ihr Vater Thomas wird darauf aufmerksam gemacht, entscheidet sich nach einem Anruf jedoch dagegen, seine Tochter zu befreien. Seine Ehefrau engagiert daraufhin den Privatermittler Alexander Zorbach, ihre Tochter zu finden. Zusammen mit Felines Physiotherapeutin Alina Gregoriev stößt er auf eine Playlist ihrer Lieblingsmusik, die vor Kurzem jedoch entscheidend gekürzt und verändert wurde. Alexander und Alina gelangen zu der Überzeugung, dass die neue Playlist eine Botschaft enthält, wo Feline festgehalten wird. Es beginnt ein Spiel gegen die Zeit, denn nicht nur Felines Leben steht auf dem Spiel, Alexander muss auch in zwei Tagen eine zweijährige Haftstrafe antreten. 

Wer "Der Augensammler" und "Der Augenjäger" gelesen hat, wird mit Alexander Zorbach und Alina Gregoriev auf alte Bekannte stoßen. Zum Verständnis von "Playlist" ist es jedoch nicht zwingend erforderlich, die beiden Thriller gelesen zu haben, auch wenn während der Suche nach Feline immer wieder Bezug auf den "Augensammler" genommen wird, der damals nicht gefasst werden konnte. 

"Playlist" ist als Fitzek-Roman gewohnt rasant und voller abenteuerlicher, lebensgefährlicher Situationen, die die Protagonisten heldenhaft und selbstlos bewältigen, ohne dass die Berliner Polizei eine große Rolle bei der Aufklärung der Entführung spielt. 
Der Kniff mit der Playlist ist eine originelle Idee und es ist interessant, neben dem Roman die Songs zu hören und auf ihre Texte zu achten. Die rätselhafte Botschaft, die hinter den fünfzehn ausgewählten Musikstücken steht und offenbar von Feline trotz ihrer Entführung erstellt werden konnte, ist so knifflig zu entschlüsseln, dass man als Leser auf den kreativen Kopf von Alexander Zorbach angewiesen ist, der sich schrittweise Felines Peiniger und ihrem Versteck anzunähern scheint. 
Bald ist zu ahnen, dass mit der Entführung insbesondere Felines strenger Vater, der zugleich Lehrer an ihrer Schule ist, abgestraft werden soll. Wie jedoch das ominöse Resort Ambrosia, in das sich Felines Mutter in ihrer Verzweiflung einschleicht, damit zusammenhängt, ob Alina ihrem Verlobten Nils wirklich vertrauen kann und ob hinter der Entführung wirklich der "Augensammler" steckt, ist spannend zu erfahren. Dabei ist der Thriller bis zum Schluss wendungsreich, da letztlich kein Protagonist durchschaubar ist. 
Die verschiedenen Perspektiven und Handlungsstränge tragen zu einem dynamischen Handlungsverlauf bei und steigern die Spannung, auch wenn man als Leser mit der Lösung der Symbolik, Anagramme, Zahlen- und Wortfindungen der Playlist schlicht überfordert ist und die Geschichte damit ein wenig konstruiert wirkt. Nichtdestotrotz ist die Verbindung von Musik und Thriller eine innovative Idee, die eine Entführung mit altbewährten Motiv neuartig in Szene setzt. 

Freitag, 5. November 2021

Buchrezension: Karyn Sepulveda - Drei Freundinnen fürs Glück

Inhalt:

Die 92-jährige Marie öffnet jeden Morgen ihr Café und versorgt ihre Gäste mit heißen Getränken, köstlichen Leckereien und warmen Worten. Eines Tages lernt sie Isla und Dee kennen – zwei Frauen, die auf ganz unterschiedliche Lebenswege zurückblicken. Schnell entwickelt sich eine Freundschaft, denn die Frauen treffen sich genau im richtigen Moment. Isla, die von Trauer zerfressen wird, bekommt von ihrem Therapeuten die Aufgabe, Briefe an ihre Vergangenheit zu schreiben. Sie erzählt Marie und Dee davon, die sich dem Projekt anschließen. So stellen sie sich mutig dem, was war, und spüren plötzlich diese ganz besondere Kraft, die tief in uns allen schlummert. 

Rezension: 

Mit 92 Jahren arbeitet Marie immer noch in dem Café in dem Haus, dass ihre alleinerziehende Mutter Rose in den 1920er-Jahren für sie und ihren Bruder gebaut hat. Marie ist ein warmherziger Mensch und das Café ein einladender Wohlfühlort für ihre Kunden. Nach dem Vorbild ihrer Mutter ist auch sie eine starke Frau und möchte dies mit klugen Ratschlägen auch anderen Frauen vermitteln. 
Dee ist als achtjähriges Mädchen vom Libanon nach Australien eingewandert und ist nun mit Ende 40 die angesehene Direktorin einer öffentlichen Schule. Sie ist Muslima und steht dazu und arbeitete seit zehn Jahren an einem interreligiösen Lehrplan, der nun die Genehmigung zur Umsetzung erhalten hat. Dee ist glücklich und stolz auf ihren Erfolg, aber der Lehrplan and die Öffentlichkeit gelangt, erlebt sie Widerstand und Kritik, mit der sie nie gerechnet hätte. 
Isla ist Mitte 30 und hat die Marketing-Kampagne für Dees Lehrplan erarbeitet. Sie hat eine bewegende Vergangenheit hinter sich, mit der sie sich durch den Kontakt zu Marie erneut konfrontiert sieht. 
Die Freundschaft, die sich innerhalb kürzester Zeit zwischen den Frauen entwickelt, gibt ihnen Halt, zeigt ihnen, wie stark sie sein können und gibt ihnen den Mut, für ihre Ziele zu kämpfen. 

"Drei Freundinnen fürs Glück" beschreibt die Leben dreier Frauen unterschiedlicher Generation. Dabei wechselt der Roman zwischen den Perspektiven und den Erzählsträngen in der Gegenwart und Vergangenheit, wobei der Schwerpunkt sich zunächst auf eine Frau konzentriert, so dass es leicht fällt, der Handlung zu folgen. 
Alle drei Frauen sind zielstrebig und liebenswert und im Herzen gute Menschen. Während Dee und Isla noch ein wenig Antrieb brauchen, für die Einsicht, wie stark sie sind, ist Marie altersweise und eine ruhige, kluge Ratgeberin. 
Durch die drei unterschiedlichen Biografien und die Probleme, die die Frauen erleben und meistern, ist der Roman abwechslungsreich und unterhaltsam. Er handelt von Trauer und Verlust, von Integration und Rassismus, von Freundschaft und der Bereitschaft, für sich selbst einzustehen und für seine Lebensziele zu kämpfen. 
Der Roman ist so motivierend, dass es schon fast ein wenig penetrant wirkt. Auch empfand ich die Frauen und die Demonstration weiblicher Stärke etwas zu konturlos und aufgesetzt. Der Roman ist stellenweise so zuckersüß, dass die Seiten zusammenkleben könnten, aber vermittelt eine so schöne, erhebende Botschaft, sich gegen alle Selbstzweifel und Gegenwind von anderen alles zuzutrauen, dass einem beim Lesen einfach das Herz aufgehen muss. Die Freundschaft der Frauen, die im Klappentext so herausragend angekündigt wurde, kam mir aufgrund des Fokus auf die Erzählung der Einzelschicksale zu kurz. 

Mittwoch, 3. November 2021

Buchrezension: Priska Lo Cascio - Die Stunde zwischen Nacht und Morgen

Inhalt:

Um etwas zu bewirken auf der Welt, widersetzt sich die junge Schweizerin Eli Wipf 1946 ihrem Vater und ihrem Verlobten und schließt sich einer Hilfsorganisation an. Eli wird nach Köln geschickt. In der zerbombten Stadt fehlt es an allem, und die junge Frau arbeitet Tag und Nacht im »Schweizer Dorf«, um die wachsende Zahl von Notleidenden und Flüchtlingen zu versorgen.
Dort begegnet Eli eines Tages dem ehemaligen Soldaten Helmut, dessen düstere, wortkarge Art ihr zuerst unheimlich ist. Andererseits kümmert Helmut sich rührend um seinen kleinen Bruder Mattes, den auch Eli ins Herz geschlossen hat. Doch als der Winter kommt, greift in Köln die Tuberkulose um sich, und plötzlich steht Mattesʼ Leben auf Messers Schneide. 

Rezension:

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges meldet sich die Schweizer Kaufmannstochter Eli Wipf freiwillig bei der Hilfsorganisation "Schweizer Spende", um im zerbombten Deutschland zu helfen. Sie gelangt nach Köln, wo es den Menschen an allem mangelt. Trotz aller Widrigkeiten ist Eli sehr engagiert und die Menschen im Schweizer Dorf am Venloer Wall wachsen ihr ans Herz. Dort lernt sie auch den ehemaligen Wehrmachtsoldaten Helmut Dreesen kennen, der 1946 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Er ist von den Erlebnissen traumatisiert, versucht jedoch wieder Fuß zu fassen, übernimmt Verantwortung für seinen jüngeren Bruder Mattes und beweist im Schweizer Dorf sein handwerkliches Geschick. Ihm fällt die sympathische und hilfsbereite "Fräulein Eli" auf, kann sich jedoch nicht vorstellen, dass sie Interessen an einem mittellosen, ehemaligen Soldaten haben könnte. 

Der Roman beginnt im Jahr 1946, als Köln in Trümmern liegt und die Bevölkerung Hilfe von der Organisatin "Schweizer Spende" erhält, die Baracken aufgebaut hat, um vor allem die Kinder mit Essen und Kleidung zu versorgen. Eli ist ein von vielen Freiwilligen, die ihr komfortables Leben in der Schweiz hinter sich gelassen hat, um zu helfen. Sie ist ambitioniert, zu Beginn jedoch ein wenig blauäugig und schnell wird ihr bewusst, dass die Hilfe nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Geradezu peinlich ist es ihr, wie gut es den Menschen im Vergleich dazu in ihrer Heimat geht. Ihre Eltern unterstützen ihr Engagement nicht, weshalb es zum Bruch mit ihrer Familie und ihrem Verlobten kommt. 

Helmut ist einer der wenigen deutschen Soldaten, die Stalingrad überlebt haben und aus russischer Kriegsgefangenschaft fliehen konnten. Durch seinen unbedingten Überlebenswillen gelangt er zurück nach Köln und findet im Schweizer Dorf seinen Bruder wieder, während der Rest der Familie im Krieg ums Leben gekommen ist. Er hat Albträume und die Kriegsereignisse lassen ihn nicht los, doch er lenkt sich mit Arbeit ab und ist ohnehin zu stolz um Almosen anzunehmen. 

Der Roman schildert die Situation nach 1945, abwechselnd aus der Perspektive von Eli und Helmut, authentisch. Die zerstörte Stadt Köln hat man bildhaft vor Augen und kann eindrücklich nachvollziehen, in welchen Straßenzügen sich die Protagonisten bewegen. Die Charaktere sind vielschichtig mit Ecken und Kanten, sind sympathisch, aber mit Fehlern und ihren eigenen Dämonen. 

"Die Stunde zwischen Nacht und Morgen" ist ein warmherziger historischer Roman, der gut und aufwändig recherchiert ist und eine lebendige, fiktive Geschichte mit historischen Fakten verknüpft. Er handelt von einem Neuanfang, von Hoffnung, Zusammenhalt und ganz viel Menschlichkeit im Rahmen der selbstlosen, ehrenamtlichen Hilfe, aber auch von Krankheit, Armut, Hunger und Kälte. 
Trotz erschütternder, trauriger und düsterer Momente und der Schilderung des Leids der Bevölkerung vermittelt er eine positive Aufbruchsstimmung, zeigt den Kampfgeist der Menschen, das Herzblut, das in ihnen steck t und wirft einen zukunftsgewandten Blick nach vorn. Die Liebesgeschichte steht nicht unmittelbar im Vordergrund fügt sich jedoch passend in den Kontext ein und ist realistisch beschrieben, da sich die Protagonisten nur zögerlich, fast schon schüchtern, annähern, was vor dem Hintergrund der Erlebnisse nur allzu verständlich ist. Insbesondere deshalb hofft man aber auch, dass Eli und Helmut ein glückliches Ende vergönnt ist.