Montag, 8. November 2021

Buchrezension: Anne Gesthuysen - Wir sind schließlich wer


Inhalt:

Die Bürger der Gemeinde Alpen sind skeptisch, als Anna von Betteray die Vertretung des erkrankten Pastors übernimmt. Schließlich ist sie geschieden, blaublütig, mit Mitte dreißig viel zu jung für den Posten und eine Frau. Der einzige Mann an ihrer Seite: ihr Hund Freddy. Während Anna versucht, ein dunkles Kapitel ihrer Vergangenheit zu bewältigen und die Gemeinde behutsam zu modernisieren, gerät das Leben ihrer Schwester Maria komplett aus den Fugen. Ihr Mann wird verhaftet, kurz darauf verschwindet auch noch ihr Sohn. Ausgerechnet sie, die in den Augen der standesbewussten Mutter die Vorzeigetochter war, die auf Schützenfesten zur Königin gekrönt wurde und einen Grafen heiratete, während Anna mit schmutzigen Hosen im Stall spielte und sich in die falschen Männer verliebte. Erst in der Not überwinden die Schwestern ihre Gegensätze – und erhalten Unterstützung von überraschender Seite. Denn wenn es darum geht, einen kleinen Jungen zu finden, halten die Alpener fest zusammen. Und allen voran: Ottilie Oymann aus dem Seniorenstift Burg Winnenthal! 

Rezension: 

Als Anna von Betteray in dem Dorf Alpen am Niederrhein, in dessen Nähe sie aufgewachsen ist, die Vertretung des erkrankten Pastors übernimmt, ist nicht nur die langjährige und unverschämt indiskrete Haushälterin der Pfarrei skeptisch, ob die junge Frau der Aufgabe gewachsen ist. Schnell entstehen Gerüchte über verschiedenste Affären, die die Geschiedene mit den ledigen Männern des Dorfes haben soll. Dabei ist das einzige männliche Wesen an ihrer Seite ihr treuer Goldendoodle Freddy. 
Ernsthaft kann sich Anna ohnehin nicht mit dem Dorftratsch beschäftigen, da ihre ältere Schwester Maria ihre Unterstützung braucht. Ihr Ehemann, der wie die von Betterays adeliger Abstammung ist, wurde wegen Steuerhinterziehung verhaftet und anschließend verschwindet auch noch Annas elfjähriger Neffe Sascha, der wegen seines kriminellen Vaters in der Schule gemobbt wird. Die Fassade von Maria beginnt zu bröckeln, die im Gegensatz zur wilderen Anna stets die Vorzeigetochter ihrer Mutter war. Durch das Unglück kommen sich die beiden ungleichen Schwestern wieder näher und sogar die dem Landadel gegenüber missgünstigen Dorfbewohner Alpens helfen bei der Suche nach dem vermeintlich entführten Sascha. 

Neben dem Skandal um die Verhaftung und das negative Bild, das damit auf die auf den schönen Schein wahrende Familie von Betteray geworfen wird, steht insbesondere das Verhältnis der beiden ungleichen Schwestern Anna von Betteray und Maria von Moitzfeld im Vordergrund. Vier Jahre Altersunterschied trennen sie und zwei ungleiche Persönlichkeiten. Während Anna noch nie Angst davor hatte, sich die Finger schmutzig zu machen, der Wildfang der Familie war, besonders ihrem Vater nahe stand, an die falschen Männer geriet und mit Mitte Dreißig bereits geschieden ist, hat sich Maria als Prinzessin und Liebling der Mutter Mechthild stets deren Erwartungen gebeugt und einen standesgemäßen Grafen geheiratet. 
Anna, die Kummer gewöhnt ist, zeigt in der Krisensituation, dass sie die stärkere der beiden Schwestern ist, denn die einst so disziplinierte Maria hatte schon längst die Kontrolle über ihr eigenes Leben verloren und agiert nun kopflos. 

Trotz des Unglücks, das auf die Familie von Betteray hereinbricht und der bitteren Vergangenheit Annas, die lange im Verborgenen bleibt, ist der Roman unterhaltsam und vielfach überraschend humorvoll geschrieben. Die Geschichte wirkt lebensnah, die Charaktere sind authentisch und das verschlafene Dorf mit den antiquierten Ansichten der Bewohner lässt sich bildhaft vorstellen. Der Neid und der Unmut, der gegenüber dem Landadel herrscht, der aus Langeweile und Sensationslust verbreitete Dorftratsch und auch die Überheblichkeit des Adels, die durch Maria und Mutter Mechthild verkörpert wird, mögen etwas überspitzt dargestellt sein, machen die Geschichte aber auch so lebendig und unterhaltsam. 
Anna ist ein warmherziger Charakter, der sich durch nichts unterkriegen lässt und sich nicht nur in ihrer Eigenschaft als Pastorin aufopferungsvoll um andere kümmert. Vorbildhaft unterstützt sie Maria und ihre Mutter, obwohl diese ihr das Leben schwergemacht haben und auch in der gegenwärtigen Situation wenig Dankbarkeit zeigen. 
Einblicke in das Verhältnis der beiden Schwestern erhält man insbesondere durch Rückblicke in die Vergangenheit, die aus der Perspektive Marias erzählt werden. Auf diese Weise fällt es auch leichter zu verstehen, weshalb sich Maria, die schon immer fremdbestimmt war, so unbeholfen und garstig verhält. 
Neben den Enthüllungen, die sich im Rahmen der Ermittlungen der Polizei über die Familie auftun, wird die Entführung fast zur Nebensache. Annas Großtante Ottilie, die nichts auf ihre adelige Abstammung gibt, lockert die Stimmung durch ihre resolute, gleichzeitig aber auch besonnene und altersweise Art auf, ohne dass dies im Alter mit Anfang 90 zu aufgesetzt wirkt.

Die Geschichte hat Charme, aber in einzelnen Situationen driftete die Dramödie fast in Richtung Klamauk ab. Auch wurde mir in Gegenwart einer Alkoholikerin entschieden zu viel Alkohol getrunken. 
Nichtsdestotrotz ist "Wir sind schließlich wer" eine gelungene Familiengeschichte, die von Zwängen, hohen Erwartungen und gesellschaftlichen Konventionen, von Selbstbestimmung und der ungleichen Dynamik innerhalb einer Familie handelt, für die der äußere Schein stets das Wichtigste war. Emotional und spannend ist geschildert, wie die Mauern einreißen, wie Standesdünkel abgeschüttelt werden und wie zwei Schwestern sich nach Jahren der Distanz wieder näher kommen. Den Rahmen bildet eine abenteuerliche Entführungsgeschichte, die allerdings am Ende etwas langatmig wird, da man als Leser den Hintergrund schneller durchschaut, als die Protagonisten. Letztlich steht eher Unterhaltung als Tiefgang im Vordergrund, da Probleme nicht wirklich gelöst werden und auch Annas Vergangenheit nur sehr vage bleibt. 

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