Samstag, 29. September 2018

Rezension: Anika Landsteiner - Mein italienischer Vater

Inhalt:

Ohne groß nachzudenken, bricht Laura auf nach Süditalien. Ihre Mutter ist gerade gestorben, ihre große Liebe zerbrochen. Jetzt will sie zu ihrem Vater, irgendwo muss es doch auf dieser Welt einen Ankerpunkt geben. Vor Jahren hat sie ihn zum letzten Mal gesehen, und mit ihrer Ankunft bringt sie alles durcheinander: Emilio sitzt im Rollstuhl, an seiner Seite Gianna, die ihn schon immer geliebt hat. Das Auftauchen der Tochter könnte ihr Glück zerstören. Schon bald nach ihrer Ankunft in der fremden Heimat stellt Laura fest, dass sie die ganze Wahrheit über ihre deutsch-italienische Familie noch lange nicht kennt. 

Rezension: 

Laura Wind ist 25 Jahre alt und muss den frühen Tod ihrer Mutter Magdalena verkraften. Für sie war sie mehr als nur eine Mutter, ihre engste Vertraute und beste Freundin. 
Aber auch die Trennung von ihrem Freund David muss Laura verarbeiten, den sie verlässt, als sie erfährt, dass seine Exfreundin ein Kind von ihm erwartet. 
Zu ihrem Vater Emilio, der in Italien wohnt, hat hat sie kaum Kontakt, hat ihn zuletzt jedoch bei der Beerdigung ihrer Mutter gesehen. Laura fühlt sich im Augenblick allein und verlassen. An Silvester setzt sie sich sodann ohne groß nachzudenken in ihren alten FIAT und fährt in Richtung Süden. Fast zeitgleich mit ihrem spontanen Aufbruch erhält sie eine SMS von ihrem Vater, der derzeit selbst angeschlagen ist und mit gebrochenen Beinen im Rollstuhl sitzt und auf die Hilfe und Pflege seiner Lebensgefährtin Gianna angewiesen ist. 
Vor 19 Jahren, als ihre Mutter Emilio verlassen hat, war Laura zuletzt in Italien. Laura fühlt sich unsicher, wird von Gianna alles andere als mit italienischer Herzlichkeit in Empfang genommen, versucht sich ihrem Vater anzunähern und lernt dabei Luca, den Bruder ihrer ehemaligen besten Freundin näher kennen. 

Der Roman ist durchweg melancholisch geschrieben und trotz dem Reiseland Italien kein heiterer Sommerroman. Es geht um die Verarbeitung des Todes eines geliebten Menschen und den Umgang mit der Einsamkeit. Laura fühlt fällt nach dem Tod der Mutter in ein tiefes Loch, begibt sich sogar in Therapie. Magdalena scheint die einzige Bezugsperson für sie gewesen zu sein, weshalb Laura nun einsam und auf sich allein gestellt ist. 
Ihr Vater, den sie bis auf den Tag der Beerdigung so lange nicht mehr gesehen hat, ist ihr zunächst fremd, kann ihr aber schon bald den Halt geben, den sie braucht. Aber die Vergangenheit, Ereignisse, die Emilio nach all den Jahren noch belasten, steht zwischen ihnen. 

Für Laura ist Italien ein Neuanfang. Sie gibt ihrem Leben eine neue Richtung und findet gleichzeitig eine Familie, die ihr ein Zuhause und Geborgenheit geben kann, nach der sie so gesehnt hat. 

"Mein italienischer Vater" ist ein leiser Roman, mit dem man Laura nach einem Schicksalsschlag nach Apulien auf die Suche nach Liebe und Heimat begleitet. Es geht um die Überwindung einer Entfremdung, um das Verzeihen können und auch um das Erwachsenwerden einer jungen Frau, die sich bislang sehr an ihre Mutter geklammert hat. 




Freitag, 28. September 2018

Buchrezension: Andreas Eschbach - NSA - Nationales Sicherheits-Amt

Inhalt: 

Was wäre, wenn es im Dritten Reich schon Computer gegeben hätte, das Internet, E-Mails, Mobiltelefone und soziale Medien - und deren totale Überwachung?

Weimar 1942: Die Programmiererin Helene arbeitet im Nationalen Sicherheits-Amt und entwickelt dort Programme, mit deren Hilfe alle Bürger des Reichs überwacht werden. Erst als die Liebe ihres Lebens Fahnenflucht begeht und untertauchen muss, regen sich Zweifel in ihr. Mit ihren Versuchen, ihm zu helfen, gerät sie nicht nur in Konflikt mit dem Regime, sondern wird auch in die Machtspiele ihres Vorgesetzten Lettke verwickelt, der die perfekte Überwachungstechnik des Staates für ganz eigene Zwecke benutzt und dabei zunehmend jede Grenze überschreitet.

Rezension: 

Helene Bodenkamp ist Anfang 20 und arbeitet als Programmstrickerin im Nationalen Sicherheits-Amt im Dritten Reich. Das NSA ist eine Behörde mit Sitz in Weimar, die noch unter Wilhelm II. gegründet wurde. Nach Ende des Weltkrieges im Jahr 1917 wurden die Aufgaben und Befugnisse des Amtes durch den ersten Regierungschef der Weimarer Republik, Philipp Scheidemann, neu geordnet. Es sollte alle technisch verfügbaren Daten sammeln und Datenströme im Netz der Komputer sowie der beweglichen Telephonie beobachten. Programmstrickerinnen wie Helene unterstützen dabei die Analysten des Amtes, indem sie die Massendaten nach festgelegten Kriterien und Fragestellungen aufbereiten. 

Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers geriet das Amt innerhalb der Bevölkerung zunehmend in Vergessenheit, das Gestapo, SA und SS in der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen wurden. 
Während des Krieges gibt es Überlegungen, das Amt aufzulösen, da die Mitarbeiter für wichtigere Aufgaben an der Front oder in der Rüstung gebraucht würden. Der Leiter des Amtes, August Adamek, aber insbesondere der Analyist Eugen Lettke, der auf keinen Fall als Soldat einberufen werden möchte, möchten eine Auflösung des Amtes verhindern und beweisen, dass das Amt eine wichtige Stütze ist, um den Krieg gewinnen zu können. Am 5. Oktober 1942 ist deshalb der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, mächtigster Mann hinter Hitler, für eine Inspektion zu Besuch. Helene, als eine der fähigsten Programmstrickerinnen, demonstriert ihm die schier unendlichen Möglichkeiten der Auswertung der massenhaft vorhandenen Daten über jeden Bürger. Insbesondere die Fähigkeit, illegal versteckte Personen über den Verbrauch von Lebensmitteln pro Haushalt ausfindig zu machen, stößt auf großes Interesse. 

Helene befindet sich mit ihrer Tätigkeit, deren Auswirkungen ihr lange nicht bewusst waren, in einem Interessenkonflikt, versteckt sie doch seit Kurzem einen Fahnenflüchtigen, in den sie sich verliebt hat. 

"NSA - Nationales Sicherheits-Amt" ist ein Politthriller, der zur Zeit des Dritten Reiches spielt, in der die Technik aber so weit fortgeschritten ist, dass es Komputer, elektronische Briefe, bewegliche Telephone und ein Weltnetz mit Unterhaltungsforen gibt. Das NSA sammelt unkontrolliert Daten über jeden Bürger, die sich allein durch einen Einkauf oder die Nutzung des Telephons ergeben. Die Massendaten werden in Datensilos gesammelt und kommen unter anderem dann zur Auswertung, wenn es einen Hinweis darauf gibt, das sich ein Bürger nicht konform verhält. 

Es ist ein erschreckendes Szenario, das Andreas Eschbach aufbaut. Man fragt sich unweigerlich, wie die eigenen Daten im Internet, die bei Behörden, Versicherungen und Ärzten vorliegen, zweckentfremdet würden, wenn heute wieder ein Diktator in Deutschland an der Macht wäre und ob die Daten heute eigentlich sicher sind bzw. ob man zu unvorsichtig ist und zu viel von sich in sozialen Netzwerken preisgibt. 

Die Mischung aus historischem Hintergrund und zukünftiger Technologie ist anschaulich und nachvollziehbar dargestellt, da man die historischen Ereignisse und die Entwicklung des NSA durch einen Rückblick in die 20er- und 30er-Jahre aus der Perspektive von Helene miterlebt. 

Interessant ist dabei nicht nur die Einfachheit der Sammlung der Daten und die erschreckend leichte Bündelung und Aufbereitung derselben, um sie zur Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung zu nutzen. Die Spannung über die Verwendung der Daten wird vor allem dadurch gesteigert, dass Helene plötzlich persönlich von den Konsequenzen ihrer Tätigkeit betroffen ist und sich nicht nur um ihre eigene Sicherheit, sondern auch um die ihrer Freunde und ihres Geliebten fürchten muss. Wie kann sie die Tätigkeit bei der NSA noch mit ihrem Gewissen vereinbaren oder kann sie ihren direkten Zugriff auf die Daten für ihren eigenen Schutz verwenden? Und muss sie dann nicht auch versuchen, die Personen vor Verfolgung zu schützen, die durch ihre Recherchen als Bürger aufgedeckt werden, die den Gesetzen zuwider handeln?

Trotz des Umfangs des Romans von 800 Seiten hat der Roman keine Längen. Der Thriller überzeugt nicht nur durch die Recherche zur Historie, der perfekten Anpassung der Sprache an die damalige Zeit und die mühelosen Erklärungen der Technologie, die in die Geschichte eingebettet werden, sondern auch durch die Vielschichtigkeit der Charaktere und die bis zum Ende aufrechterhaltene Spannung, wie dieses Szenario enden kann. 


Mittwoch, 12. September 2018

Buchrezension: Kate Hamer - Das Mädchen, das rückwärts ging

Inhalt:

Im englischen Norfolk verschwindet ein Mädchen. Bei dichtem Nebel scheint die achtjährige Carmel wie vom Erdboden verschluckt. Es gibt keine Hinweise, niemand hat sie gesehen, die Polizei tappt im Dunkeln.

Carmels Mutter, seit kurzem wieder Single, gibt sich voller Verzweiflung selbst die Schuld: Hat sie Signale übersehen, nicht genug achtgegeben auf ihr einziges Kind? Carmel ist ein besonderes Mädchen: Sensibel und reifer als andere in ihrem Alter, verhält sie sich oft rätselhaft, wirkt abwesend, verträumt. Zwischen Hoffnung und Ohnmacht sucht die Mutter schließlich selbst nach ihr. Schritt für Schritt geht sie zurück in der gemeinsamen Zeit, jede Kleinigkeit zählt. Währenddessen beginnt für Carmel eine lange und ungewöhnliche Reise.


Rezension: 

Die achtjährige Carmel ist mit ihrer Mutter Beth bei einem Märchenfestival, ist aber schon bald so genervt von ihrer übertriebenen Fürsorge, dass sie sich vor ihrer Mutter versteckt. 
Beth sucht verzweifelt nach ihr, aber niemand hat das Mädchen im roten Mantel gesehen. Die geschiedene Beth macht sich schwere Vorwürfe, gibt sich die Schuld am Verschwinden ihrer verträumten, etwas altklugen Tochter. Durch den Verlust kommt es zu einer freundschaftlichen Annäherung mit ihrem Exmann Paul, der ihr Halt gibt. Nach einer Phase des sozialen Rückzugs und der Verzweiflung bis hin zu einem Selbstmordversuch kommt Beth wieder zu sich und erlernt den Beruf der Krankenschwester. Auch Jahre später hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, ihre Tochter wiederzufinden. 

Der Roman ist abwechselnd aus der Sicht von Beth und Carmel geschrieben, so dass man als Leser weiß, was mit der Achtjährigen passiert ist. Die Entführung gleicht einem Roadtrip mit einer neuen Familie durch die USA. 

Das Buch beginnt düster im nebligen Norfolk, wobei die Spannung vor allem dadurch aufgebaut wird, dass der Hintergrund der Entführung - ohne Spuren für die Polizei, ohne Leiche und ohne Lösegeldforderung - zunächst unklar ist. Die Verzweiflung von Beth und ihre Reaktionen auf das Verschwinden ihrer Tochter ist glaubwürdig und nachvollziehbar. Auch hat mir gefallen, dass sie sich mit ihrem Exmann annähert, ohne dass amouröse Gefühle zwischen den beiden aufkamen. 
Die Erzählungen aus Sicht von Carmel empfand ich als zu erwachsen für ihr Alter, auch wenn sie von Beginn als sehr reif dargestellt wurde. Die Beschreibung des Umhervagabundierens mit ihrer neuen Familie war mir zu lang, der Grund für die Entführung etwas absurd und vor allem völlig unerwartet. In der Regel mag ich es, wenn mich ein Buch überraschend und ein Handlungsverlauf nicht vorhersehbar ist, zu dieser Thematik um übersinnliche Kräfte, Sekten und religiösen Fanatismus konnte ich allerdings keinen Bezug finden. Hier hätte ich mir gewünscht, wenn die Autorin mehr auf die Person des Entführers, einer Art Prediger, eingegangen wäre, als auf seine Gebrechen und die ungewöhnliche Reise mit Carmel. Weniger langatmige Ausführungen und etwas mehr Hintergrundinformationen zu der Philosophie des Predigers und seiner Anhänger hätten dem Roman mehr Spannung und Stringenz verleihen kennen. 


Montag, 10. September 2018

Buchrezension: Nuala Ellwood - Was ihr nicht seht

Inhalt:

Kate ist eine mutige Frau, die als Kriegsreporterin kein Risiko scheut. Ihre Vergangenheit an der südenglischen Küste hat sie lange hinter sich gelassen. Erst als ihre Mutter stirbt, kehrt sie zurück nach Herne Bay, wo ihre Schwester Sally noch immer lebt. Aber Kate spürt vom ersten Tag an, dass die Heimkehr unter keinem guten Stern steht. Sie hat furchtbare Albträume und hört Stimmen, die ihr keine Ruhe lassen. Und so glaubt ihr auch niemand, als sie meint, die Schreie eines Jungen aus dem Nachbargarten zu hören. Doch Kate will der Sache auf den Grund gehen – nicht ahnend, dass sie und ihre Schwester dadurch in tödliche Gefahr geraten.

Rezension:

Kate ist Kriegsreporterin aus Großbritannien, die zuletzt aus Aleppo in Syrien berichtet hat. Nach dem Tod der Mutter kehrt sie in ihre Heimat England, nach Herney Bay, zurück. Sie ist entsetzt über den Zustand ihrer jüngeren Schwester, die derart dem Alkohol verfallen ist, dass sogar ihre Tochter Hannah bereits vor fünf Jahren die Flucht ergriffen und den Kontakt eingestellt hat. Ehemann Paul fügt sich scheinbar in sein Schicksal und kümmert sich um Sally, ohne ihr tatsächlich zu helfen. 

Rachel hat in Syrien Schreckliches erlebt und leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Sie hat immer wieder Bilder vor Augen und Stimmen im Kopf. Unter dem Einfluss von Medikamenten und Alkohol, die sie in rauen Mengen konsumiert, kann sie bald nicht mehr unterscheiden, was Einbildung und was Realität ist. So kommt es zu ihrer Festnahme, als sie bei den Nachbarn ihrer Mutter Hausfriedensbruch begeht, da sie meint, einen kleinen Jungen gehört und gesehen zu haben, der dort festgehalten und misshandelt werden soll. Die junge Irakerin nebenan hat allerdings gar keinen Sohn...

Der Roman ist in drei Teile untergliedert. Der längste erste Teil handelt von Rachel, ihrer Rückkehr nach England, ihrer Ingewahrsamnahme und Verhör durch die Polizei. Der zweite Abschnitt ist aus Sicht von Sally geschildert und zeigt ihre Flucht in den Alkohol, um Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Tochter Hannah zurückzudrängen, die sie viel zu früh als Teenager geboren hat. 
Beide Frauen haben in der Vergangenheit unter ihrem alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater gelitten, so dass ihre gegenwärtigen Zustände nur als logische Konsequenz ihrer Sozialisation erscheinen. 

Rachel - zwischen Trauma und Wahnsinn, unter dem Einfluss von Alkohol, Antidepressiva und Schlafmitteln - ist es auch für den Leser nicht einschätzbar, was Erinnerungen an die Kriegsschauplätze sind, von denen Rachel berichtet hat und was sich tatsächlich nebenan in Herny Bay ereignet. Sally ist zwar benebelt vom Alkohol, hat den Bezug zur Realität aber noch nicht verloren. 

Die Schwestern sind keine Sympathieträgerinnen und ich fand es phasenweise anstrengend, immer wieder über ihre Alkoholexzesse und Medikamentenmissbrauch zu lesen. Spannung kam dann auch erst im zweiten Teil auf, als Sally durch die Sorge um ihre Schwester, die wieder nach Syrien zurückgekehrt ist und dort nach einem Bombenanschlag vermisst wird, aus ihrer Lethargie erwacht und Nachforschungen zu den Nachbarn ihrer Mutter anstellt. Im dritten Teil überschlagen sich die Ereignisse; es ist der Showdown, während dem die jüngsten Ereignisse etwas ernüchternd unspektakulär und, für erfahrene Krimileser schon länger vorhergesehen, aufgeklärt werden.

Während der erste Teil den Leser bewusst im Dunkel tappen lässt und sehr ausführlich Rachels Traumata schildert, erzeugte der zweite Teil zwar mehr Spannung und das Buch entwickelte sich endlich zum Psychothriller, jedoch sind die daran anschließenden Ereignisse zu vorhersehbar, die Auflösung menschlich schockierend, aber ohne Wow-Effekt. 
Das seelische Leid, das die beiden Schwestern ertragen mussten - sei es in der Beziehung zu Mutter, Vater oder (Ex-)partnern - war mir in der Kombination mit Rachels posttraumatischen Belastungsstörungen aufgrund ihrer Tätigkeit als Journalistin an Kriegsschauplätzen - einfach zu viel Drama. 



Samstag, 8. September 2018

Buchrezension: Deb Spera - Alligatoren

Inhalt:

Seit Stunden belauern sie sich gegenseitig: das Alligatorweibchen, das seine Jungen beschützen muss, und Gertrude, deren vier Töchter seit Tagen nichts gegessen haben. Ein Schuss fällt, doch er trifft nicht das Reptil – es gibt Schlimmeres als den Hunger.
Auch Annie, die Plantagenbesitzerin, hat einen größeren Feind, als sie wahrhaben möchte. Ihren jüngsten Sohn kostete das bereits das Leben.
Doch als Oretta, Annies schwarze Haushälterin und in erster Generation von der Sklaverei befreit, Gertrudes kranke neunjährige Tochter bei sich aufnimmt, finden diese drei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein können, zusammen. Denn sie alle haben eins gemeinsam: die unstillbare Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung.


Rezension:

Der Roman handelt von drei ganz unterschiedlichen Frauen: Unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlicher sozialer Schicht. 

Gertrude Pardee ist Mutter von vier Mädchen, von denen zwei bei ihrem Bruder leben. Die Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen im Sumpf und hungert. Ihr Ehemann Alvin ist Alkoholiker und gewalttätig. In ihrer Verzweiflung steht Gertrude kurz davor, einen Alligator zu erschießen, um ihre Töchter zu versorgen. 

Annie Coles ist die Ehefrau des Plantagenbesitzers Edwin Coles. Seit der Baumwollkapselkäfer die Ernte zerstörte, sind sie auf den Anbau von Tabak umgestiegen. Das Ehepaar hat vier erwachsene Kinder, aber nur noch Kontakt zu den beiden Söhnen, die den Eltern helfen. Annie ist ihrer Zeit voraus und Besitzerin einer Näherei, in der sie mehrere Frauen beschäftigt. Ihr Sohn Lonnie soll den Betrieb übernehmen, was für den Vater undenkbar unmännlich ist. 
Die Familie hat in der Vergangenheit einen schweren Verlust erlitten und leidet bis heute darunter. Annie würde sich gern mit ihren beiden Töchtern versöhnen, aber dann macht sie eine für sie so unglaublich erschütternde Entdeckung, dass ihr die vergangenen Ereignisse erst gegenwärtig klar werden und sie sich vor allen zurückzieht. 

Oretta Bootles ist die farbige Hausangestellte der Familie Coles. Auch sie hat in der Vergangenheit einen schweren Verlust erlitten. Sie hat dennoch ihren Glauben nicht verloren und kümmert sich aus christlicher Nächstenliebe um die neunjährige Tochter von Gertrude, als diese schwer krank ist. Zudem vermittelt sie Gertrude eine Arbeitsstelle bei Annie Coles in der Näherei. 

Der Roman wird abwechselnd aus der Sicht einer der drei Frauen geschildert. Die Autorin berücksichtigt dabei in ihrer Ausdrucksweise die soziale Herkunft, so dass man als Leser problemlos in die Lebensumstände der jeweils handelnden Protagonistin eintauchen kann. 
Das Leben in den 1920-er-Jahren in den Südstaaten ist von einer Wirtschaftskrise, Armut und Krankheit geprägt. Zudem haben die Menschen mit den Kräften der Natur wie Schädlingen und Unwetter zu kämpfen. 

Was die Frauen verbindet, ist ihr Drang nach Freiheit und die Fürsorge um ihre Kinder. Was sie nicht voneinander wissen ist, dass alle drei schmerzliche Verluste in der Vergangenheit erlitten haben. 
Zu Beginn verlaufen die einzelnen Passagen parallel nebeneinander, aber im weiteren Verlauf des Romans gibt es immer mehr Überschneidungen, die die drei Leben der Frauen miteinander verbinden. 

Durch die bildhafte und lebendige Beschreibung fühlt man sich in die 1920er-Jahre in die Situation der Plantagenwirtschaft in den Südstaaaten in den USA hineinversetzt. Spürbar ist das Über-/ Unterordnungsverhältnis von Schwarz und Weiß, auch wenn die Sklaverei abgeschafft ist. Dagegen nehmen die Frauen im Gegensatz zu ihren Männern eine unheimliche starke, moderne Rolle ein. Während die farbige Oretta mit ihre Mann Odel auf Augenhöhe ist und eine sehr innige Beziehung führt, setzen sich Gertrude und Annie gegen ihre dominanten Ehemänner zur Wehr.

"Alligatoren" ist ein atmosphärischer, beklemmender, phasenweise trauriger Roman, der zeigt, dass Menschen trotz unterschiedlicher sozialer Schichten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Schließt man sich dann in der Not zusammen, was die Solidarität unter den Frauen beweist, ist eine Veränderung möglich. Kein Mensch ist allein und darum wird letztlich demonstriert, wie viel man in der Gemeinschaft durch gegenseitige Hilfe und Unterstützung über gesellschaftliche Schichten hinweg erreichen kann, so dass der Roman mit einem hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft aufwartet und den Mut der Frauen belohnt. 



Freitag, 7. September 2018

Buchrezension: Dennis Lehane - Der Abgrund in dir

Inhalt:

Rachel Childs hat alles, was man sich erträumt: ein Leben ohne finanzielle Sorgen, einen gutaussehenden, liebevollen Ehemann. Doch im Bruchteil einer Sekunde macht ausgerechnet dieser Mann ihr Leben zu einer Farce aus Betrug, Verrat und Gefahr. Nichts ist mehr, wie es scheint, und Rachel muss sich entscheiden: Wird sie kämpfen für das, was sie liebt, oder im Strudel einer unglaublichen Verschwörung untergehen?

Rezension: 

Rachel Childs ist allein bei ihrer exzentrischen Mutter Elizabeth aufgewachsen, die als Autorin psychologischer Ratgeber bekannt geworden ist. Trotz intensiver Nachfragen hat sie Rachel nie verraten, wer deren Vater ist. Als Elizabeth bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt und Rachel ganz allein ist, engagiert sie den Privatdetektiv Brian Delacroix, um ihren Vater ausfindig zu machen. Mit den wenigen Angaben, die sie machen kann, ist die Suche nahezu aussichtslos. 

Rachel wird Journalistin, heiratet ihren Kollegen Sebastian, den sie nicht wirklich liebt, aber der ihr Sicherheit gibt und berichtet aus dem Ausland für Kanal 6. Nach einem traumatischen Erlebnis bei der Berichterstattung über Naturkatastrophen, das Elend vor Ort und die Hilflosigkeit der Menschen, erleidet Rachel einen Nervenzusammenbruch. Seit ihrer Rückkehr aus Haiti hat sie mit Panikattacken zu kämpfen, Karriere und Ehe scheitern. 
Rachel zieht sich zurück, bis sie Brian Delacroix wiederbegegnet, der sie dabei unterstützt, ihre Panikattacken und Angst vor Menschen wieder in den Griff zu bekommen. Sie genießt seine Fürsorge und fühlt sich aufrichtig geliebt. Widersprüchliche Angaben zu seinen Geschäftsreisen und Auslandsaufenthalten führen jedoch dazu, dass Rachel misstrauisch wird und nach und nach jegliches Vertrauen zu ihrem Ehemann verliert, den sie offensichtlich gar nicht richtig kennt...

"Der Abgrund in dir" erzählt das Leben von Rachel Childs, von ihrer Kindheit 1977 bis in die Gegenwart 2014. Zu Beginn liest sich der Roman durch die Schilderung der psychischen Probleme von Elizabeth und Rachel wie ein Drama. Als Rachel jedoch das Lügenkonstrukt ihres zweiten Ehemanns aufdeckt, aus ihrer Lethargie erwacht und notgedrungen wieder aktiv am Leben teilnimmt, um herauszufinden, was Brian zu verbergen hat, wird der Roman zunehmend spannender und entwickelt sich zu einer Kriminalgeschichte zwischen Lügen, Verrat und Wahnsinn. 
Mit Rachel hat Dennis Lehane einen sehr interessanten Charakter geschaffen, der vielschichtig und nie so ganz durchschaubar ist, auch wenn der Roman aus ihrer Sicht geschrieben ist und man sie von ihrer Kindheit an kennenlernt. Ich empfand die Vorgeschichte nicht als zu lang, lediglich den Schreibstil in diesem Abschnitt etwas nüchtern. 
Die Wendung, die der Roman dann nimmt, die Tatsache, dass Rachel ihren Ehemann erschießt (was bereits im Prolog verraten wird) und die Folgen, die sich daraus ergeben, sind faszinierend und nicht vorhersehbar. Fast jedes einzelne Kapitel endet mit einem Cliffhanger und lässt den Leser das Buch kaum aus der Hand legen. Immer wieder gibt es Wendungen, mit der die Handlung neu an Fahrt aufnimmt. Der Leser wird immer wieder hinters Licht geführt, was den Roman unterhaltsam und spannend macht. Die häufigen Twists machten die Geschichte allerdings auch unnötig komplex und ließen die Handlung phasenweise etwas konstruiert wirken. 
Der Roman ist anspruchsvoll geschrieben, da man immer wieder gezwungen ist, die Verbindung von vergangenen Ereignissen oder Figuren aus vorangegangen Kapiteln herzustellen bzw. sich in Erinnerung zu rufen und in einen neuen Handlungskomplex einordnen muss. Zeit ihres Lebens ist Rachel damit beschäftigt, Wahrheiten ans Licht zu bringen, zunächst über ihren Vater, dann beruflich als Journalistin und schließlich über ihren Ehemann. 
"Der Abgrund in dir" könnte ich mir gut als Vorlage für eine Romanverfilmung als spannender Mysterythriller vorstellen. 




Mittwoch, 5. September 2018

Buchrezension: Kamila Shamsie - Hausbrand

Inhalt:

"Isma würde ihre Maschine verpassen. Mit dem Verhör hatte sie gerechnet, aber nicht mit der stundenlangen Warterei ..." 
Es ist kein Zufall, dass man Isma am Londoner Flughafen derart in die Mangel nimmt. Schon ihr Vater war ein Dschihadist, und nun hat sich ihr kleiner Bruder dem IS angeschlossen. Der ultimative Verrat, denn ihn und seine Zwillingsschwester Aneeka hat Isma großgezogen. Nach dem frühen Tod beider Eltern hatte sie ihr Studium abgebrochen, um für die jüngeren Geschwister die Mutterrolle zu übernehmen. Als die Zwillinge auf eigenen Füßen stehen können, bekommt Isma in den USA ein Stipendium und könnte dort weiterstudieren. Und das Wunder geschieht - sie darf einreisen. Dort angekommen freundet sie sich mit Eamonn an, einem jungen Engländer, der wie sie pakistanische Wurzeln hat, aber aus privilegierten Verhältnissen stammt. Als ihr kleiner Bruder dem IS den Rücken kehren will, könnte Eamonns einflussreicher Vater - er ist der Innenminister Großbritanniens - helfen. Doch der ist ein Hardliner, wenn es um die "Sicherheit" der Engländer geht. 

Rezension:

Nachdem Isma sich nach dem Tod der Mutter und Großmutter um ihre neun Jahre jüngeren Zwillingsgeschwister Aneeka und Parvaiz gekümmert hat, ist sie endlich frei, um ihr Studium wieder aufzunehmen. Die Britin pakistanischer Herkunft erhält von einer Mentorin in den Vereinigten Staaten ein Stipendium, doch ihr Vater ist ein verstorbener Djihadist und ihr Bruder befindet sich derzeit in Syrien, wo er sich dem Islamischen Staat angeschlossen hat. Nach einem Verhör am Londoner Flughafen darf sie tatsächlich in die USA einreisen. In einem Café lernt sie Eamonn kennen, den Sohn des britischen Innenministers Karamat Lone, der selbst Muslim ist und jeglichen Fundamentalismus ablehnt. 
Zurück in London sucht Eamonn die hübsche Aneeka auf, die er von Fotos kennt. Er verliebt sich in die toughe Jurastudentin, auch wenn er weiß, dass er mit einer Beziehung zu ihr der Karriere seines Vaters massiv schaden kann. Aneeka wiederum hofft durch seine Hilfe ihrem Zwillingsbruder die Ausreise aus Syrien zu ermöglichen. 

Der Roman ist in fünf Abschnitte untergliedert und darin aus der Sicht von Isma, Eamonn, Parvaiz, Aneeka und Karamat geschildert. 
Er handelt von einer muslimischen Familie, die in dritter Generation in London fest verwurzelt sein sollte. Der Vater hat die Familie allerdings frühzeitig verlassen, so dass die jüngeren Zwillinge keine Erinnerungen an ihn haben. Er ist ausgereist und hat an verschiedenen Kriegsschauplätzen in Allahs Namen gekämpft. Inzwischen sind die Zwillinge erwachsen und während Aneeka trotz festen Glaubens in Wembley integriert ist und ein Jurastudium aufnimmt, schlägt sich Parvaiz mit Nebenjobs durch und findet in Faruk einen Freund, der ihm von seinem Vater erzählt, ihn als Märtyrer idealisiert. Parvaiz hat stets eine Vaterfigur gefehlt und so lässt er sich leicht von den Versprechungen Faruks blenden, der an Parvaiz' Muslimehre und Männlichkeit appelliert, auf den Spuren seines Vaters gegen die Ungläubigen zu kämpfen. 

Gegensätzlich stellt sich die Familie Lone dar, die ebenfalls pakistanischer Herkunft ist und in London lebt, aber einer anderen gesellschaftlichen Schicht angehört. Der Vater hat es bis zur Funktion des britischen Innenministers gebracht und sieht sich selbst als Vorbild für Integration. 

Durch die Schilderung der fiktiven, aber glaubhaften Geschichte aus den verschiedenen Perspektiven kann man sich als Leser sehr gut in die unterschiedlichen Lebenssituationen der Protagonisten hineindenken. 
Der Roman behandelt ein aktuelles politisches Thema und spielt mit den Ängsten der heutigen Zeit. Es geht um islamistischen Terrorismus, um die Verlorenheit in der Gesellschaft, um die Suche nach Anerkennung und einen Platz in der Welt. Am Beispiel von Parvaiz wird aufgezeigt, wie leicht Jugendliche ohne ein starkes Elternhaus manipuliert werden und einer Gehirnwäsche unterzogen werden können. Es zeigt aber auch, egal ob in Gestalt von Isma, die sich auch von den USA aus um ihre jüngere Schwester in London sorgt, oder ob in Gestalt von Aneeka, die ihren Bruder nicht aufgeben kann, wie stark ein Band unter Geschwistern sein kann. 
Wie weit ist es noch moralisch vertretbar, für seinen Bruder zu gehen? Ist Blut dicker als Wasser? Kann Eamonn aus Liebe zu Aneeka die Prinzipien seiner Familie verraten? Wie kann Karamat als Politiker und Vater mit dem Gewissenskonflikt umgehen, ohne sich unglaubwürdig zu machen?

Es ist eine tragische Geschichte mit interessantem Plot und spannenden Charakteren, die aufgrund der fünf ganz unterschiedlich erzählten Abschnitte etwas sprunghaft zu lesen ist und bei der aufgrund der Kürze der Passagen jeder einzelne Protagonist für sich etwas zu kurz kommt.

Montag, 3. September 2018

Buchrezension: Anton Badinger - Zwei unter einem Schirm

Inhalt:

Lotta ist in ihren Trafikanten verliebt und kauft ihm jede Woche ein Los ab. Doch als sie den Hauptgewinn macht, geht alles schief: Ihre neue Villa entpuppt sich als renovierungsbedürftig, ihre neuen Freunde als Betrüger. Gülcan aus Istanbul wiederum hat den falschen Mann geheiratet. Nun lebt sie in einer trostlosen Wohnung in Salzburg, und statt in die versprochene Ausbildung steckt Cemil sie in SÜPER CHICKEN, seinen Hühnerimbiss. Eines Tages gelingt ihr die Flucht nach Wien, dort trifft sie Lotta, die von ihrer eigenen Housewarming-Party geflohen ist. Die beiden Frauen schließen Freundschaft und merken schnell, dass gemeinsam alles leichter geht und dass das Glück nicht immer dort liegt, wo man es vermutet.

Rezension:

Lotta spielt jeden Donnerstag Lotto und hofft auf den Millionengewinn. Sie beginnt, für den Trafikanten zu schwärmen, bei dem sie ihre Lose kauft. Er scheint sie allerdings nicht wahrzunehmen. Auch die Arbeit als Controllerin ist alles andere als erfüllend für Lotta, weshalb sie ihr Leben komplett umkrempelt, als der ersehnte Lottogewinn tatsächlich wahr wird. Zunächst hält sie den Gewinn geheim, aber ihr großspuriges Verhalten und ihre zunehmende Überheblichkeit verraten sie. Während alte Freunde sich abwenden und sie ihre Arbeitsstelle kündigt, bekommt sie schnell neue Freunde und kauft sich im Zuge ihrer Euphorie eine renovierungsbedürftige Stadtvilla. 
Lotta leidet unter ihrem geringen Selbstwertgefühl und möchte unbedingt zur High Society gehören, um den Trafikanten und ehemaligen Broker auf sich aufmerksam zu machen. Viel zu spät merkt sie dabei, wie sie von ihren "Freunden" benutzt wird und wie der Lottogewinn dahinschmilzt. 

Gülcan lebt bei ihren Eltern in Istanbul, wo sie mit ihrem Beruf als Fremdenführerin glücklich ist. Ihre Eltern wollen zurück nach Anatolien und drängen ihre Tochter deshalb dazu, endlich zu heiraten. Der auserwählte ist Cemil Adem stammt aus Anatolien, lebt jedoch in Salzburg. Nach einem kurzen Kennenlernen entsteht eine Hassliebe, sie heiraten und Gülcan zieht nach Salzburg. Cemils Haus entpuppt sich als Wohnung, die er mit seiner konservativen Mutter und seinem dementen Vater bewohnt. Die versprochene Ausbildung darf Gülcan nicht antreten, sondern muss als Beitrag für das Familienbudget in Cemils neu eröffnetem Imbiss Süper Chicken arbeiten. Gülcan ist unglücklich, fühlt sich eingeengt und als Cemil dann auch noch gewalttätig wird, setzt sie sich fluchtartig und klammheimlich in den Zug nach Wien, wo sie Lotta begegnet.

Der Roman über die beiden unterschiedlichen Frauen, deren Leben fast zwei Drittel des Buches parallel nebeneinander verlaufen und abwechselnd geschildert werden, liest sich sehr unterhaltsam und erfrischend spritzig. Der Perspektivenwechsel erfolgt schnell, was den Roman dynamisch macht. 

Der Autor kann sich als Mann überraschend gut in die Lagen von Lotta und Gülcan hineinversetzen, was auch auf den Leser übertragen wird. Lotta und Gülcan sind beide auf der Suche nach dem Glück und einem erfüllten Leben. Während die Österreicherin Lotta wenig Selbstbewusstsein besitzt und meint, nur durch Geld auch zu Geltung zu gelangen, ist Muslima Gülcan eine selbstbewusste Frau, die ein unabhängiges, freies Leben führen möchte. Lotta ist so unsicher und verblendet, dass man sie am liebsten schütteln würde. Sie hat ihr Leben völlig aus der Hand gegeben, wendet sich in ihrer Verzweiflung dem Alkohol zu und belügt sich selbst. Gülcan dagegen nimmt ihr Schicksal nach wenigen Monaten nicht mehr hin und beginnt zu kämpfen. 

"Zwei unter einem Schirm" ist weniger ein Roman über eine Frauenfreundschaft, sondern vielmehr eine Geschichte über Emanzipation, die Rolle der Frau und ein Kampf um Anerkennung und Unabhängigkeit. Ich habe mich beiden Frauen nahegefühlt und mochte vor allem Gülcans trockene Art, ihre Kraft, nicht zu verzweifeln, sondern entgegen ihrem Glauben, dem Druck der Eltern und der Gesellschaft für ihre persönliche Freiheit zu kämpfen. Lottas eigentlich glückliches Schicksal zeigt dagegen, was ein Lottogewinn aus einem Menschen machen kann und dass Vermögen kein Allheilmittel gegen Frust und Einsamkeit ist. 

Beide Leben werden sehr lebendig beschrieben. Der Autor verwendet eine bildhafte Sprache mit einem sympathisch ironischen Unterton. 



Samstag, 1. September 2018

Buchrezension: Fiona McIntosh - Das Mädchen im roten Kleid

Inhalt:

England, Herbst 1918. Ein junger Mann erwacht in einem Sanatorium ohne jede Erinnerung an sein früheres Leben. Er weiß nur, dass er während des Ersten Weltkriegs in Flandern gekämpft und dort Schreckliches erlebt hat. Als er an einem Tag im November im Garten der hübschen Schneiderin Eden Valentine begegnet, die einen Botengang für ihren Vater erledigt, überredet er sie, ihm zur Flucht zu verhelfen. Tom und Edie verlieben sich, doch können sie nicht ahnen, dass eine junge Frau verzweifelt auf der Suche nach Tom ist und ihn im Sanatorium nur knapp verpasst hat. Bald schon wird die Vergangenheit das glückliche Paar mit aller Macht einholen und ihre Liebe auf eine harte Probe stellen.

Rezension:

Ein Soldat, dem man den Namen Tom Jones gegeben hat, befindet sich nach Ende des Ersten Weltkrieges in einem Krankenhaus und hat aufgrund eines Schützengraben-Traumas keine Erinnerung mehr an die Zeit vor seinem Einsatz in Ypern/ Westflandern. 

Im Krankenhaus lernt er Eden Valentine kennen, die im Schneideratelier ihres Vaters arbeitet und einen Anzug ausliefert. Der junge Soldat erinnert sie an ihren verstorbenen Bruder Daniel und sie hat Mitleid mit ihm, weshalb sie ihm hilft, das Krankenhaus heimlich zu verlassen, um abseits des Traumas ein neues eben anzufangen. Die beiden verlieben sich ineinander, Eden ist aber bereits seit ihrer Kindheit Benjamin Levi, der befreundeten jüdischen Familie versprochen. 

Alexander Wynter ist der Erbe eines Industrie-Imperiums und des Landsitzes Larksfell Hall. Als seine Familie in Trauer um den verstorbenen Vater ist, überrascht er sie mit unerwartet positiven Nachrichten und fügt sich wenig später schicksalsergeben in die Heirat mit einer entfernten Cousine ein, die er mag, aber nicht liebt.

Der Roman spielt im Nachkriegs-London sowie im idyllischen Sussex von 1918 bis in die 1920er-Jahre und verbindet die Schicksale von Tom, Edie und Alex. Er handelt von zwei Liebenden, die sich unter widrigen Umständen begegnen, alles riskieren,um zusammen sein zu können und durch einen Schicksalsschlag wieder auseinandergerissen werden.
Es ist eine Geschichte voller Leidenschaft und Dramatik, die mir an den entscheidenden Wendepunkten zu klischeehaft und gefühlsduselig war. Mir ging auch die Liebesgeschichte von Edie und Tom - vom Kennenlernen bis zum Heiratsantrag innerhalb weniger Tage - zu schnell. Dagegen wurden andere Nebensächlichkeiten wie die neue Frisur Edies oder die Rasur Toms vergleichsweise episch ausgeführt. Weiterhin störte mich, dass für diese junge Liebe mit so einer Leidenschaft gekämpft wurde, während sich mit allen anderen Schicksalsschlägen zu schnell abgefunden wurde. So hinterfragt Tom nach seiner Flucht aus dem Krankenhaus seine eigene Identität nicht mehr und Edie gibt nach dem Verlust zweier geliebter Menschen zu schnell auf, ohne nach der Wahrheit zu suchen. 

Auch wenn die Schicksale der Charaktere aufgrund der Dramatik und der schier unüberwindbaren Hürden, mit denen die Protagonisten konfrontiert werden, berühren und es bis zum Schluss spannend bleibt, nicht ob, sondern wie Edie und Tom wieder zueinander finden, empfand ich den Roman als eine etwas unausgeglichene Mischung aus ermüdenden Beschreibungen von Banalitäten und übertriebener Melodramatik in den entscheidenden Momenten. 
Wer dramatische Liebesgeschichten vor historischer Kulisse liebt und sich für Design und Mode interessiert, wird dieser Roman sicher gefallen, sollte allerdings nicht schon den Roman "Gefundene Jahre" ("Random Harvest") von James Hilton kennen, da sich die beiden Romane doch sehr ähneln...