Mittwoch, 30. August 2023

Buchrezension: Kristina Pfister - Tage im warmen Licht

Inhalt:

Gemeinsam mit ihrer Teenie-Tochter wagt Maria einen Neustart – in der alten Heimat, im Haus ihrer verstorbenen Großmutter, aber »nur vorübergehend, wirklich …«
War sie in der Großstadt auf sich allein gestellt, findet sie auf dem Dorf nicht nur knarzende Fachwerk-Idylle und eine friedliche Landschaft unter gefallenem Laub, sondern auch eine scheinbar zeitlose Gemeinschaft. Doch welcher Schmerz, welche Erfahrungen haben die Frauen hier zusammengeschweißt?
Maria möchte die letzten Sonnenstrahlen festhalten, möchte sich eine Scheibe abschneiden von der Kraft und Zuversicht der alten Nachbarin, für ihre Tochter stark sein und ihren Bedürfnissen Gehör verschaffen. Aber dazu muss die Maria von damals ihre Stimme wiederfinden und im Jetzt neuen Mut fassen. 

Rezension: 

Nachdem ihr auch die Wohnung gekündigt wurde, kehrt die arbeitslose Maria zusammen mit ihrer 13-jährigen Tochter Linnea in ihre Heimatstadt zurück, die sie vor über 20 Jahren fluchtartig verlassen hatte und tritt dort das Erbe ihrer Oma Hanne an. Maria möchte eigentlich nur vorübergehend bleiben, denn sie wollte nie dorthin zurückkehren, wo die Geister der Vergangenheit sie einholen könnten. 
Schon kurz nach ihrer Ankunft begegnet sie ihren alten Freunden wieder, die dageblieben sind und zu denen sie den Kontakt abgebrochen hatte. Schönere Erinnerungen verbindet sie mit der älteren Nachbarin und Omas bester Freundin Martha, die sie herzlich begrüßt und wie alle Frauen, die nicht wissen, wohin, mit offenen Armen aufnimmt. 
Marias Tochter fühlt sich in der neuen Umgebung widererwarten wohl und schließt schnell Freundschaften und auch Maria denkt über einen Neuanfang noch, doch die Erinnerungen, die sie aus der Stadt treiben, lassen sie einfach nicht los. 

Nach "Ein unendlich kurzer Sommer" handelt der neue Roman von Kristina Pfister im Herbst und fängt die Atmosphäre der ersten kühlen Tage von Altweibersommer bis Halloween, über Grießbrei mit Apfelmus, Kürbisnudeln und Linsensuppe, Apfelpunsch und Honigmet, anschaulich ein. Im Garten wird geerntet, Obst eingekocht, Gemüse fermentiert und Marthas Hofladen reich bestückt. Geschäftig bringt Maria Omas Eierschalenhaus auf Vordermann, bastelt Kastanienmännchen, muss sich weniger Sorgen um ihre Tochter machen und kommt selbst zur Ruhe. 
Nachvollziehbar ist geschildert, wie sich Maria, aber auch Linnea in der warmherzigen Umgebung, umgeben von neuen und alten Freunden einleben, Kraft tanken und in der Hexe Martha eine weise Ratgeberin haben. 

Neben den Alltagsschilderungen in der Gegenwart, gibt es kürzere Kapitel über das "Damals", über die Erinnerungen, die Maria nicht loslassen, über den Grund, warum Maria gegangen ist und die Mischung aus Enttäuschung, Schuld und Wut, die sie wieder wegtreibt. Auch wenn lange unausgesprochen bleibt, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, ist durch einzelne Begegnungen in der Gegenwart zu erahnen, was passiert ist und welches Trauma Maria schlicht verdrängen wollte. 

Die Geschichte ist durch die individuell gezeichneten Charaktere unaufdringlich esoterisch angehaucht, feiert die Rituale und die Natur, aber auch die Stärke der Frau. 

"Tage im warmen Licht" ist ein empathisch geschriebener, dialoglastiger Roman über die Last der Vergangenheit, über einen Neuanfang, über Heimat und Freunde, der sich wenn auch nicht überraschend entwickelt, so aber durch die warmherzige Atmosphäre und die authentischen Charaktere überzeugt. 
Es ist eine Geschichte, die Mut macht anders zu sein, sich abzugrenzen und die zeigt, wie wichtig Freunde oder Familie sind, um Halt zu geben und vertrauensvoll aufgefangen zu werden. Dabei wird deutlich, dass Verdrängung und Weglaufen nicht die Lösung sind und dass die Dämonen der Vergangenheit ausgemerzt werden müssen, um bereit für die Zukunft zu sein. 

Montag, 28. August 2023

Buchrezension: Fritzi Teichert - Storchenherzen

Inhalt:

Helga betreibt zusammen mit Kollegin Monika eine kleine Hebammenpraxis. Zwar liebt Helga ihren Job, aber nicht alle werdenden Mütter können mit ihrer ruppigen Art etwas anfangen. Zum Glück taucht Madita auf: Sie ist seit Kurzem ausgebildete Hebamme, zwanzig Jahre jünger und strotzt vor Tatendrang. 
Helga ist entsetzt: Madita redet ohne Punkt und Komma, ist ekelhaft fröhlich und macht laufend esoterische Verbesserungsvorschläge. Zu allem Überfluss hat Helga eine handfeste Ehekrise. 
Auch für Madita ist der Start ruckelig: An ihrem ersten Tag verursacht sie beinahe einen Unfall: Doch statt der Versicherung tauchen plötzlich lästige Verliebtheitsschmetterlinge auf. 

Rezension: 

Helga arbeitet mit Leib und Seele als Hebamme in der kleinen Praxis Storchennest, eckt mit ihrer zunehmend ruppigen Art jedoch bei ihren Klienten an, was sich an kritischen Bewertungen im Internet und einem Rückgang an Frauen zeigt, die die Praxis aufsuchen. Die neue Hebamme Madita hat zwar weit weniger Erfahrung als Helga kommt mit ihrem sonnigen Gemüt aber gut bei den werdenden und jungen Eltern an und bringt mit neuen Ideen frischen Wind in die Praxis.
Während Helga und Madita gemeinsam Klientinnen betreuen, können sie von einander lernen und lernen sich auch persönlich besser kennen. Helga ist frisch getrennt von ihrem Ehemann Hans und wird mit einer ganz besonderen Nachricht überrascht, die auch Auswirkungen auf die Trennung haben könnte. Madita ist durch den Arbeitsplatzwechsel in eine WG gezogen, in der sie sich mit den strengen Regeln zu Ordnung und Sauberkeit schwertut. Durch ihre tollpatschige Art, die sie auch mal mit dem Gesetz in Konflikt bringt, trifft sie immer wieder auf den attraktiven Polizisten Silas. 

Der Roman wird kapitelweise abwechselnd aus der Sicht von Helga und Madita geschildert, die als Figuren komplett gegensätzlich angelegt sind. Helga wirkt mit ihrer mürrischen, wenig einfühlsamen Art wie eine frustrierte Geburtshelferin kurz vor dem Ruhestand, ohne dass wirklich klar wird, wovon sie so genervt ist. Madita hingegen erscheint als Berufsanfängerin mit Ambitionen fast ein wenig überdreht. Die dritte Hebamme, der die Praxis gehört, spielt nur eine untergeordnete Rolle. 
Der Arbeitsalltag einer Hebamme wird anschaulich, detailliert und - so weit zu beurteilen - sehr authentisch beschrieben. Das Buch gleicht damit einem Porträt des Berufs Hebamme, bis das Privatleben der beiden Hauptfiguren mehr Raum einnimmt. Beide haben mit Problemen zu kämpfen, wenn sich Helgas Leben entscheidend zu verändern droht und Madita von einer Misere in die nächste purzelt. 
Der Roman ist deshalb abwechslungsreich und lebendig geschrieben, geht jedoch auf keine Schwierigkeit näher ein, bleibt oberflächlich und zerfasert durch lose Episoden rund um die Thematik des Kinderkriegens. 

Spannung kommt in dem Roman keine auf, da nicht klar wird, in welche Richtung die Geschichte eigentlich gehen soll. Retardierende Aussagen zu Helgas exklusivem Kaffeekonsum oder schmerzhaften Dammbrüchen der Gebärenden ziehen den Roman in die Länge. 
"Storchenherzen" ist zwar unterhaltsam, aber ziellos und am Ende geht der etwas dahin plätschernden Geschichte die Luft aus, so dass die fast 500 Seiten zu lang erscheinen. Der Ausblick auf einen zweiten Band stimmt deshalb nicht unbedingt euphorisch. 

Trotz manch tragischer und dramatischer Ereignisse weckt die Geschichte wenig Emotionen. Es überwiegen der bemühte Humor und wissenswerte Details rund um Schwangerschaft und Geburt. Helga und Madita leben für ihre Berufung und dienen als mustergültiges Beispiel für einen Berufsstand, der mit großen Herausforderungen umgehen muss und vergleichsweise wenig Unterstützung bekommt, wobei diese Aspekte des Berufs im Roman erstaunlicherweise nicht problematisiert werden.

Samstag, 26. August 2023

Buchrezension: Dana Vowinckel - Gewässer im Ziplock

Inhalt:

Ein Sommer zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem. Wie jedes Jahr verbringt die fünfzehnjährige Margarita ihre Ferien bei den Großeltern in den USA. Viel lieber will sie aber zurück nach Deutschland, zu ihren Freunden und ihrem Vater, der in einer Synagoge die Gebete leitet. Die Mutter hat die beiden verlassen, als Margarita noch in den Kindergarten ging. Höchste Zeit, beschließt der Familienrat, dass sie einander besser kennenlernen. Und so wird Margarita in ein Flugzeug nach Israel gesetzt, wo ihr Vater aufgewachsen ist und ihre Mutter seit Kurzem lebt. Gleich nach der Ankunft geht alles schief, die gemeinsame Reise von Mutter und Tochter durchs Heilige Land reißt alte und neue Wunden auf, Konflikte eskalieren, während der Vater in Berlin seine Rolle überdenkt. Da müssen sie schon wieder die Koffer packen und zurück nach Chicago, wo sich alle um das Krankenbett der Großmutter versammeln und Margarita eine folgenreiche Entscheidung treffen muss. 

Rezension:

Margarita ist 15 Jahre alt und verbringt die Ferien bei ihren Großeltern in Chicago, wo sie sich langweilt. Lieber wäre sie bei ihren Freunden in Berlin, wo sie zusammen mit ihrem alleinerziehenden Vater Avi wohnt, der streng religiös ist und als Chasan in einer Synagoge arbeitet. Ihre Mutter hatte die Familie vor über zehn Jahren verlassen und lädt Margarita nun ein, zu ihr nach Jerusalem zu kommen. Widerwillig kommt sie dem Wunsch nach, aber Marsha ist eine Fremde für sie, die gleich zu Beginn ihre Unzuverlässigkeit demonstriert. Auf einer Reise durch Israel kommen sie sich langsam näher, stellen sogar Gemeinsamkeiten fest, während Avi in Deutschland Urlaub macht und dort einer Frau näherkommt.

"Gewässer im Ziplock" wird abwechselnd aus den Blickwinkeln von Margarita und Avi geschildert, wobei die Erzählstränge abrupt und ohne Kennzeichnung wechseln und jeweils nur wenige Seiten lang sind. In die Erzählung fließen viele jüdische und hebräische Begriffe ein, wobei nur ein Teil davon in einem Glossar erklärt wird. Das bremst ein wenig den Lesefluss. Die Geschichte ist jedoch zumindest zu Beginn so abwechslungsreich und lebendig erzählt, dass die schnellen Wechsel und unbekannten Worte, die sich zumeist aus dem Kontext erklären, nur stören, wenn man es wirklich genau wissen möchte. 

Die Frage, was jüdisches Leben ausmacht und das Bewusstsein für eine jüdische Mentalität stehen neben der komplizierten Familienkonstellation und daraus resultierenden Enttäuschungen und Konflikten, im Vordergrund.
Die Beschreibung des jüdischen Lebens in Berlin, Chicago und Israel gibt interessante Einblicke und zeigt wie unterschiedlich Glaube und Traditionen interpretiert und vorgelebt werden. Während sich der Vater als Israeli in Deutschland tief religiös an die Regeln hält, schert sich die Mutter als Amerikanerin in Israel wenig darüber, spricht nicht ein Wort Hebräisch, dafür Arabisch und möchte gleichzeitig nicht, dass sich ihre jüdische Tochter als Deutsche empfindet. 

Die Geschichte ist reichlich konfliktgeladen, wird dabei in der zweiten Hälfte etwas eintönig, lässt aber gespannt darauf warten, wie die Familie am Ende am Krankenbett der Großmutter zusammenfinden wird.
In dem All-Age-Roman wird jedoch auch immer wieder in den andauernden Streitigkeiten zwischen den Generationen und den Expartnern deutlich, dass die Wut auf "die Deutschen" groß ist, dass das Leid des Holocausts auch bald hundert Jahre später in den nachfolgenden Generationen der Opfer weitergelebt wird. Die Hass- und Gewaltspirale scheint damit niemals enden zu wollen. 

Freitag, 25. August 2023

Buchrezension: Michaela Beck - Das Licht zwischen den Schatten

Inhalt:

Der Arbeiterjunge Konrad schwört der schönen Selma aus reichem Hause, Medizin zu studieren, um ihre behinderte Schwester Alma zu heilen. Erst die Nazis ermöglichen es ihm, seinen Schwur zu erfüllen. Brigitte muss mit ihren Eltern gegen ihren Willen in den Westen flüchten und revoltiert gegen alles und jeden. Das treibt sie schließlich in die Arme der RAF. Andrés Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die DDR bietet dem talentierten Kunstspringer eine sozialistische Vorzeigefamilie als Ersatz. Doch seine ungeklärte Vergangenheit lässt ihn nicht los. 

Rezension: 

Deutschland, wenige Jahre nach Beendigung des Großen Krieges: Der Halbwaise Konrad verliebt sich unsterblich in die gesellschaftlich höher gestellte Selma, in deren Haushalt seine Mutter arbeitet. Er würde alles für Selma tun und verspricht ihr deshalb Arzt zu werden, um ihre behinderte Zwillingsschwester Alma zu heilen. Als Arzt unter Nazis profitiert er von den Vorteilen, bis  ihn die Realität tragisch einholt. 
Brigitte wächst in den 1950er-Jahren im Dorf Mecklenburg auf, wo sie als Kind so lange mit dem Nationalsozialismus sympathisiert, bis sie das Tagebuch der Anne Frank liest. Als Jugendliche ist sie aufsässig und muss schließlich wegen ihres gegen den Arbeiter- und Bauernstaat revoltierenden Bruders zusammen mit ihrer Familie in den West fliehen. Die Offenbarung eines Familiengeheimnisses zieht ihr den Boden unter den Füßen weg und macht sie empfänglich für linksextremistisches Gedankengut. 
André hat als Kind seine Eltern bei einem Autounfall verloren und wächst bei Adoptiveltern in Dresden auf. Sein "Onkel" Fritz nimmt ihn unter seine Fittiche und als erfolgreicher Turmspringer verdient er sich Anerkennung in der DDR. Die Geheimniskrämerei um seine Eltern und die Suche nach seiner Identität lassen ihn jedoch nicht los. 

"Das Licht zwischen den Schatten" erzählt auf knapp 850 Seiten "Eine deutsche Familiengeschichte" des 20. Jahrhunderts. Die drei Erzählstränge um die zunächst Kinder und Jugendlichen Konrad, Brigitte und André werden parallel geschildert, wobei trotz Erwähnung gleicher Figuren wie (Onkel) Konrad und (Onkel) Fritz nicht von vornherein deutlich wird, in welchem Zusammenhang die Kinder bzw. die drei Handlungsstränge stehen. 

Aufgrund der verschiedenen Perspektiven, Zeiten und Orte ist die Geschichte abwechslungsreich und bietet so viele Eindrücke über die Vergangenheit, dass der epische Roman auch in Form von drei Büchern oder einer Buchreihe hätte erscheinen können.

Anhand fiktiver Charaktere erlebt man ein Stück deutsche Geschichte wieder, taucht ein in die Verhältnisse nach den beiden Weltkriegen, erlebt die Grausamkeiten des Nationalsozialismus, Eugenik und Judenverfolgung, die spätere Entnazifizierung, die Spaltung in BRD und DDR mit all ihren Folgen, Bespitzelung, Studentenproteste und den Terror der 1970er-Jahre bis zur Wiedervereinigung. 

Die drei Kinder, wie sie aufwachsen und älter werden, stehen als Personen stets im Fokus. Mit ihnen erlebt man die Vergangenheit, Freud, aber vor allem Leid hautnah mit. Die historischen Fakten werden lebendig mit den persönlichen Schicksalen verbunden, während die Hauptfiguren auf historische Persönlichkeiten treffen. 
Als sich die Zusammenhänge der parallel verlaufenden Erzählstränge offenbaren, nimmt die Geschichte an Spannung zu. Fast jedes Kapitel endet mit einer Wendung oder einem Mini-Cliffhanger und macht neugierig auf den nächsten Zeitsprung. 
Tragische Schicksale, die schon allein aufgrund der dunklen Zeiten zu erahnen sind, aber auch die Suche nach Identität und Zugehörigkeit, sind bewegend geschildert. Das Buch ist eine facettenreiche Mischung aus lebendigem Geschichtsunterricht und emotionaler, dramatischer Familiengeschichte. 

Mittwoch, 23. August 2023

Buchrezension: Markus Thiele - Die sieben Schalen des Zorns

Inhalt:

Dr. Max Keller ist Arzt mit Leib und Seele. Als seine todkranke Tante Maria ihn um Sterbehilfe bittet, gerät er in ein moralisches Dilemma. Soll er ihren letzten Wunsch erfüllen und ihr ein selbstbestimmtes Sterben ermöglichen? 
Obwohl er als Arzt dem Leben verpflichtet ist, hilft Keller der alten Frau, das ihre zu beenden. Kurz darauf eröffnet die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn. Der Vorwurf: strafbare Tötung auf Verlangen. Keller droht eine Freiheitsstrafe und der Entzug seiner Arztzulassung – was sein Ende bedeuten würde. Doch hat er Maria wirklich getötet? 

Rezension: 

Max bittet seinen ehemals besten Freund, der als Staatsanwalt tätig ist, um rechtlichen Beistand. Max ist Arzt und wurde wegen eines Todesfalls in einem Pflegeheim befragt. Er gibt zu, seiner an Demenz erkrankten Tante Medikamente zur Verfügung gestellt zu haben, die wunschgemäß ihren Tod herbeiführen sollten. Die beiden hätten dies vereinbart, um Maria einen würdevollen Abschied zu gewähren, alles sei schriftlich festgelegt worden. Tatsächlich kann die Polizei im Safe keinen Nachweis finden, die Kopien, die Max hat, sind nicht unterschrieben. Sein Freund Jonas kann ihm aus juristischer Sicht nicht helfen und zweifelt sogar daran, ob es sich um Suizid auf Verlangen handelt, denn Max ist hochverschuldet und Alleinerbe des Vermögens seiner Tante, die noch eine Tochter hat. Gleichzeitig hadert Jonas mit seinem langjährigen schlechten Gewissen, denn hätte Max ihm vor 25 Jahren nicht selbstlos geholfen, hätte Jonas Lebensweg ganz anders ausgesehen. 

Stellt man rein auf den Klappentext ab, könnte man meinen, dass sich das Buch rein um die Frage handelt, wo das Recht auf einen selbstbestimmten Tod endet und wie der Prozess gegen Max verläuft. Tatsächlich bietet der Roman, der wechselnd aus den Perspektiven von Max und Jonas geschrieben ist und durch zahlreiche Rückblenden bis in die 1970er-Jahre die Lebensgeschichten der beiden ehemals besten Freunde nachzeichnet, viel mehr. Der Roman handelt von Familie und Freundschaft, von Schuld und Treue, von Krankheit und Tod und schließlich von juristischen Fragen, von Ethik und Moral.

Die Geschichte ist überraschend vielseitig und spannend aufgebaut. Weder möchte man sich in dem Dilemma von Max befinden, der seiner Tante und Ziehmutter einen letzten Wunsch erfüllen möchte und sich damit vor dem Gesetz strafbar macht, noch möchte man mit Jonas tauschen, der sich in dem Dilemma befindet, die Gesetze zu befolgen und gleichzeitig seinem Freund helfen zu wollen - zumal er tief in seiner Schuld steht.

Neben den Aspekten der schwierigen und schwermütigen Familiengeschichte, die ein umfassendes Bild über die einzelnen handelnden Personen und ihren Verbindungen zueinander bieten, tritt die Frage nach der Rechtfertigung der aktiven Sterbehilfe schon fast in den Hintergrund. Der Wunsch nach selbstbestimmten Sterben und die Hilfeleistung dazu, wird von einer interessanten und facettenreichen Geschichte umspannt, bis am Ende das Justizdrama und der Prozess in den Vordergrund rückt. Auch der Glaube an einen barmherzigen Gott und die Zweifel daran spielen vor allem in Bezug auf Max, der in seinem Leben so viel Grausames erleben musste, eine wichtige Rolle und erklären auch den Titel des Romans. 
Aufgrund der Tatsache, dass der Bundestag nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das das Recht, sich das Leben zu nehmen und dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet hat, in der Pflicht ist, eine gesetzliche Regelung zu erlassen, ist der Roman auch ein Jahr nach seinem Erscheinen brandaktuell. 

Montag, 21. August 2023

Buchrezension: Jackie Kabler - Eine glückliche Familie

Inhalt:

Als Beth zehn Jahre alt war, hat ihre schöne Mutter die Familie ohne ein Wort verlassen. Beth' Vater versuchte mit allen Kräften den Verlust wettzumachen, aber natürlich gab es Probleme, und Beth trägt ein dunkles Geheimnis mit sich herum, von dem außer ihrem Vater niemand etwas weiß.
Inzwischen ist Beth erwachsen und rundum zufrieden. Sie hat zwei wohlgeratene Kinder, einen interessanten Job, gute Freundinnen, und sie kümmert sich liebevoll um ihren alten Vater. Und dann steht eines Tages plötzlich diese ältere Frau vor ihrer Tür und behauptet, ihre lang verschollene Mutter zu sein. Beth ist zunächst schockiert, aber dann scheint sich alles aufs Schönste zu fügen. Doch nach und nach passieren merkwürdige Dinge: Beth fühlt sich von einem Mann verfolgt, sie verliert ihre Schlüssel, das Handy ist weg, die Freundinnen wenden sich ab. Beth fürchtet, den Verstand zu verlieren. Werden die Schatten der Vergangenheit sie schließlich doch einholen? 

Rezension: 

Beth wurde im Alter von zehn Jahren von ihrer Mutter verlassen und ist allein bei ihrem Vater aufgewachsen. 30 Jahre später ist Beth selbst Mutter von zwei kleinen Kindern, geschieden, aber zufrieden mit ihrem Leben, ihrer Nachbarschaft, ihren Freundinnen und ihrer Arbeit als Praxismanagerin. 
Als unerwartet eine Frau vor ihrer Haustür steht und behauptet, ihre Mutter Alice zu sein, nimmt Beth diese überglücklich in Empfang und lässt sie sogar bei sich einziehen. Sie freut sich über die Anwesenheit ihrer Mum und auch die Kinder mögen die neu gewonnene Großmutter. 
Beth könnte so glücklich sein, ist es trotz aller Wiedersehensfreude aber nicht. Ihre Freundinnen wenden sich von ihr ab, ihr selbst passieren immer mehr Fehler und es ereignen sich merkwürdige Dinge, die sie an ihrem Verstand zweifeln lassen. Darüber hinaus quält sie ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit, das nur ihr Vater kennt und von dem sie Angst hat, dass es jederzeit herauskommen und ihr Leben zerstören könnte. 

Der Roman wird aus der Ich-Perspektive von Beth geschildert, so dass man ihr Glück, aber vielmehr ihre Angst und Selbstzweifel gut nachempfinden kann. Weniger nachvollziehbar ist, wie blauäugig sie ihre Mutter bei sich aufnimmt und lieber ihr statt ihren langjährigen Freundinnen oder ihrer treuen Haushaltshilfe zu vertraut. 
Die Geschichte ist derart durchschaubar, dass vom Nervenkitzel eines Psychothrillers nichts zu spüren ist. Wer hier wen manipuliert, ist nicht nur für erfahrene Thriller-LeserInnen leicht zu erkennen. Das Geheimnis aus Beths Vergangenheit, dass zu Beginn neugierig macht, wird dann auch bald gelüftet und scheint nach all den Jahren viel zu präsent in Beths Gedanken, Albträumen und Ängsten um die Aufdeckung. 
Wie alles zusammenhängt, wird erwartungsgemäß aufgeklärt, bis dahin wiederholen sich aber sämtliche Gedankengänge, Verdächtigungen und es passiert zu wenig, was der Geschichte neue Impulse gegeben hätte. 
Während der ganze Sachverhalt um das plötzliche Erscheinen von Alice schon etwas konstruiert wirkt, stellt sich die - auch erwartungsgemäße - Überraschung am Ende noch viel abwegiger dar. Auch die Charaktere verhalten sich nicht lebensecht, wirken einfältig oder gar unglaubwürdig. 

Letztlich macht den Reiz dieses Rachedramas nur aus, wie weit Beths Feind gehen wird und wann die naive Hauptfigur endlich die richtigen Schlüsse zieht und Zusammenhänge erkennt. Für den angekündigten "Psychothriller mit Sogwirkung" ist dies allerdings zu wenig. Die Bezeichnung als "Kriminalroman" in Onlineshops (nicht aber auf dem Taschenbuch - vermutlich zurecht überarbeitet) auf dem Buchcover will allerdings noch weniger passen, denn weder in Bezug auf Beths Vergangenheit noch in Bezug auf die Klärung der Identität ihrer Mutter finden konkrete Ermittlungen statt.

Samstag, 19. August 2023

Buchrezension: Lene Hansen - Liebe knistert wie Brausepulver

Inhalt:

Für Valerie könnte es nicht besser laufen: Frühlingsgefühle liegen in der Luft, und endlich hat sie ihre heiß ersehnte Beförderung erhalten. Doch der Sonnenschein in ihrem Leben erlischt jäh, als sie erfährt, dass ihre geliebte Großtante Berenike im Koma liegt. Valerie reist nach Berlin, um sich dort um Berenikes Café zu kümmern. In dem Lokal findet sie jedoch Hinweise, dass sich ihre exzentrische Tante neben Buttercremekuchen und Sahnebiskuit mit weitaus gefährlicheren Dingen beschäftigt hat.
Endlich steht Niklas auf der Seite von Recht und Ordnung. Seine Karriere als Kunstdieb hat er an den Nagel gehängt. Um den Neuanfang zu wagen, lässt er alles Alte hinter sich. Doch dann lernt er Valerie kennen, die nicht nur himmlisches Gebäck verkauft, sondern gemeinsam mit ihm Hals über Kopf in ein riskantes Abenteuer verwickelt wird. 

Rezension:

Kurz nach der Beförderung zur persönlichen Assistentin der Chefin einer Firma für Innendesign in München erhält Valerie die Nachricht, dass ihre geliebte Großtante Berenike nach einem Herzinfarkt im Koma liegt und sie die Vollmacht über Berenikes Angelegenheiten erhalten hat. In Sorge fährt Valerie kurzerhand nach Berlin, kann ihre Großtante aufgrund eines hochansteckenden Virus, das im Krankenhaus grassiert, allerdings nicht besuchen. Stattdessen widmet sie sich Berenikes Café, das sie offenbar nur stiefmütterlich betrieben hat. Voller Elan backt Valerie Schokoladenkuchen und serviert Frühstück, ist jedoch zunehmend irritiert von allerlei Ungereimtheiten und kryptischen Nachrichten ihrer Großtante. 
Der frühere Gentlemandieb Niklas kümmert sich als alleinerziehender Vater um seine zwei Söhne in Hamburg, als er von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Er soll einen letzten Coup wagen und wird dafür für einen Gemäldediebstahl von seiner ihm unbekannten Auftraggeberin nach Berlin zitiert. An dem vereinbarten Treffort stößt er auf Valerie, die sich ihm als Aushilfe in dem Café vorstellt und offenbar ahnungslos in Bezug auf seinen geheimen Auftrag ist. 

In "Liebe knistert wie Brausepulver" steht weniger die Entwicklung einer Liebesbeziehung im Vordergrund, als vielmehr das Geheimnis um Großtante Berenike und ihr Café sowie Niklas, der gezwungen wird, ein letztes Mal einen Kunstraub zu begehen. 
Die Geschichte wird dabei abwechselnd aus den Perspektiven der beiden Hauptfiguren Valerie und Niklas geschildert. Sie ist abwechslungsreich und unterhaltsam, aber auch sehr abenteuerlich geschildert. Neben der recht speziellen Untergrundtätigkeit von Niklas und Valeries Großtante, bei der es sich ohne Zweifel um die unbekannte XX handeln muss, ist die Geschichte auch durch einige Logikfehler nicht ganz ernst zu nehmen. 

Das Buch ist eine lebendige Geschichte zwischen Romanze und Kriminalroman, will aber in Bezug auf kein Genre so richtig zu zünden. Zu seicht und vorhersehbar mangelt es der Geschichte an Spannung, hat aber aufgrund ihres Ideenreichtums und der vielfältigen individuellen Charaktere aber dennoch ihren Reiz und Charme. Dennoch muss man gehörige Abstriche an die Logik und Schlüssigkeit der Geschichte machen. In wenigen Tagen ereignet sich viel zu viel und die Motive der Charaktere bleiben dabei auf der Strecke. 

Freitag, 18. August 2023

Buchrezension: Joy Fielding - Home, sweet home

Inhalt:

Nach einem traumatischen Erlebnis zieht Maggie mit ihrer Familie nach Palm Beach Gardens in Florida. Sie hofft, in der gepflegten Gegend mit den freundlichen Nachbarn ihre Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Doch dann verlässt sie ihr Mann, und auch die Idylle ihres Viertels erweist sich als trügerisch: Eine lautstarke Auseinandersetzung im Haus gegenüber, zwielichtiger Besuch nebenan, spitze Bemerkungen bei einem gemeinsamen Grillfest. Schnell gerät Maggie zwischen die Fronten und muss um ihre und die Sicherheit ihrer Kinder fürchten. Und als an einem heißen Sommermorgen der Knall eines Schusses die Stille zerreißt, ist allen klar: Hier ist mehr passiert als ein gewöhnlicher Nachbarschaftsstreit. 

Rezension:

Maggie McKay ist nach einem traumatischen Ereignis mit ihrer Familie nach Palm Beach Gardens gezogen, um Abstand zu gewinnen und neu anzufangen. Während sich ihr Mann und ihre Kinder in der soliden Nachbarschaft einleben, leidet Maggie weiterhin unter Angstzuständen, die ihren Alltag einschränken. Ihr Mann verliert die Geduld und verlässt sie, weshalb sie sich aus Eigenschutz eine Waffe besorgt, die sie nicht mehr ablegt.
Doch auch hinter den Fassaden der anderen Einfamilienhäuser herrscht nicht überall eitel Sonnenschein und eines schönen Sommertags fällt ein Schuss.

"Home sweet Home" wirft einen Blick hinter verschlossene Türen und beschreibt die Leben von Maggie und ihren Nachbarn aus wechselnden Perspektiven. Dabei stellt sich heraus, dass es in jedem Haushalt mindestens eine Waffe gibt und dass es in jedem Haus auch mindestens einen Bewohner gibt, dem man einen Schusswaffengebrauch zutraut - sei es aus Notwehr, Panik, Wut, Eifersucht, Unwissenheit oder Spaß.
Die Probleme, die sich hinter den Mauern und vor den Nachbarn verbergen, sind mannigfaltig, aber alltäglich und nicht realitätsfern. Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum, häusliche Gewalt, Konflikte zwischen den Generationen beschäftigen die Nachbarn in der Sackgasse und in jedem Haushalt scheint die Situation allmählich zu eskalieren.

Die Familien sind individuell gezeichnet, so dass es trotz der Vielzahl an Figuren, die auf die/ den LeserIn in schneller Abfolge einprasseln, nicht schwerfällt den Überblick über die Nachbarschaft und Personenkonstellation zu bewahren.

Die Geschichte ist nicht spannend oder abgründig wie ein Thriller, aber kurzweilig zu lesen. Wer letztlich der Täter oder die Täterin ist, ist gar nicht so wichtig, interessant sind die Schilderungen aus der Perspektive der Menschen, die leiden und in einem Hamsterrad gefangen sind. Selbst kann man nur spekulieren, wer so mutig, verzweifelt oder feige ist, die Waffe zu zücken, ob es ein tödliches Opfer geben und wer es sein wird. 

Mittwoch, 16. August 2023

Buchrezension: Genevieve Wheeler - Jedes Herz ist ein Puzzle aus Scherben

Inhalt:

Adelaide Williams lebt den Traum der tausend Möglichkeiten: Sie macht die Londoner Pubszene unsicher, versucht, ihren Master abzuschließen und einen Job zu ergattern, der nicht aus unterbezahlten Überstunden im PR-Bereich besteht. Und sie verliebt sich. In den umwerfenden Rory Hughes, immer einen Schritt außer Reichweite. Aber Adelaide weiß: Wenn sie sich ein wenig mehr Mühe gibt, ihn noch etwas mehr liebt, wird er ihre kleinen Fehler schon vergessen. Da stirbt Rorys Exfreundin Nathalie, Times-Journalistin, Perfektion in Person. Es geschieht, wovor sich Adelaide immer gefürchtet hat: Das genau ausbalancierte Gefüge ihres Lebens fällt in sich zusammen. Egal, wie sehr sie sich bemüht, sie kann sich nicht mit dem Geist von Nathalie messen. Es dauert, bis Adelaide erkennt, dass das Licht gerade dann am hellsten funkelt, wenn es sich in den tausend kleinen Unperfektheiten des Lebens bricht. 

Rezension: 

Nach einer traumatischen ersten Liebe als Teenager führte Adelaide Williams anschließend nur lose Beziehungen, um sich vor erneuten Verletzungen zu schützen. Mit Mitte 20 verliebt sich die Amerikanerin, die inzwischen in London wohnt, unsterblich in den Engländer Rory Hughes, ihren Disneyprinzen und Seelenverwandten. Doch Rory möchte sich nicht festlegen und macht Adelaide nur wenig Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft. Er verabredet sich nur kurzfristig mit ihr, sagt Treffen spontan ab, stellt sie nirgendwo als seine Freundin vor und stößt sie regelmäßig vor den Kopf.  Adelaide gibt sich  aufgrund ihrer eigenen Unzulänglichkeiten an seinen Abweisungen selbst die Schuld und versucht weiterhin das Herz von Rory zu erobern. Als seine Exfreundin Nathalie bei einem Unfall ums Leben kommt, mit der er sich offenbar immer noch verbunden fühlte, versucht Adelaide ihm über die Trauer hinweg zu helfen und muss auf schmerzhafte Weise feststellen, dass sie niemals mit einer engelsgleichen Toten konkurrieren kann. 

Der Roman beginnt bereits bewegend mit Adelaides Tiefpunkt und verheißt keine leicht verdauliche Liebesgeschichte. 
Nach dem Prolog erfolgt ein Rückblick in die Jahre 2018/ 2019, als Adelaide und Rory sich so schicksalhaft begegneten und Adelaide dachte, endlich ihre große Liebe gefunden zu haben. Rory ist kein bad guy oder spielt ihr die große Liebe vor. Er stößt sie nie gänzlich von sich, lässt sie aber auch nie nah an sich heran. Er nimmt ihre Liebe und Fürsorge, genießt ihre Aufmerksamkeiten, aber gibt ihr nur wenig zurück. 
Die Zurückweisungen, das Ghosting, die knappen Nachrichten und abgesagten Treffen brechen Adelaide immer wieder das Herz. Statt sich zu schützen, anzuerkennen, dass Rory ihr nicht gut tut und einen Schlussstrich zu ziehen, hält Adelaide weiter an einer einseitigen Liebe fest und gibt immer wieder sich selbst die Schuld, dass Rory keine feste Beziehung mit ihr möchte. Sie fühlt sich zu beschädigt, zu überempfindlich, zu anstrengend, nicht gut genug und leidet so lange, bis ihr Herz komplett in Scherben ist. Es ist die Summe an subtilen Gemeinheiten und ein Vertrauensbruch, der Adelaide die Augen öffnet, sie niederringt, aber auch kämpfen lässt. 

"Jedes Herz ist ein Puzzle aus Scherben" ist wie der dramatische Buchtitel bereits suggeriert, eine emotionale, bewegende Geschichte, die vor allem die dunkle Seite der Liebe erzählt. Überwiegend aus der Sicht von Adelaide geschrieben, kann man sich gut in die junge, so lebenslustige Frau, die ihr Leben in London mit einem verlässlichen Freundeskreis und guten Jobaussichten vor sich hat, hineinversetzen. Die Schilderungen aus der Vergangenheit ihrer Teenagerzeit tragen darüber hinaus dazu bei, dass man ihr Verhalten in Bezug auf die Liebe, ihre Sehnsucht und ihre Verletzlichkeit leichter versteht. 

Es ist eine schmerzhafte Lektüre über toxische Beziehungen, über Missbrauch, Ghosting und selbstzerstörerische Charakterzüge, die Betroffene mit ähnlichen Erfahrungen triggern kann.
Das durch den Prolog vorausgestellte Ende macht die Geschichte nicht weniger spannend, zeichnet die sich anbahnende Katastrophe allerdings vor und macht alle Hoffnungen für Romantikerinnen auf ein Happy End mit Rory zunichte. 
Trotz ihrer Düsternis hat die Geschichte jedoch vor allem durch Adelaides innige Freundschaften und ihre unerschütterliche, liebenswerte Art viele kleine Lichtblicke und ein Ende, das man Adelaide wünscht und das nach der Erfahrung mit Rory nicht zu kitschig erscheint. 

Montag, 14. August 2023

Buchrezension: Bonnie Garmus - Eine Frage der Chemie

Inhalt:

Elizabeth Zott ist eine Frau mit dem unverkennbaren Auftreten eines Menschen, der nicht durchschnittlich ist und es nie sein wird. Doch es ist 1961, und die Frauen tragen Hemdblusenkleider und treten Gartenvereinen bei. Niemand traut ihnen zu, Chemikerin zu werden. Außer Calvin Evans, dem einsamen, brillanten Nobelpreiskandidaten, der sich ausgerechnet in Elizabeths Verstand verliebt. Aber auch 1961 geht das Leben eigene Wege. Und so findet sich eine alleinerziehende Elizabeth Zott bald in der TV-Show „Essen um sechs“ wieder. Doch für sie ist Kochen Chemie. Und Chemie bedeutet Veränderung der Zustände. 

Rezension: 

Elizabeth Zott ist Chemikerin, wird aber in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren als Frau beruflich nicht nur nicht ernst genommen, sondern angefeindet und ausgenutzt. Als Opfer eines sexuellen Übergriffs wird sie entlassen und um ihre Promotion gebracht.
Das Angebot, eine Kochshow im Fernsehen zu übernehmen, nimmt sie nur zögerlich an, aber als alleinerziehende Mutter ist ihr beruflicher Weg als Wissenschaftlerin weiter schwierig. Ihren besonderen Charme als selbstbewusste, durchsetzungsstarke Frau setzt sie vor der Kamera ein und auch ihr Wissen als Chemikerin bringt sie bei der Zubereitung der Speisen ganz selbstverständlich ein. Millionen amerikanischer Hausfrauen gucken mit Begeisterung "Essen um sechs", die Quoten der Nachmittagssendung steigen und auch die Sponsoren der Sendung sind zunehmend begeistert. Elizabeth Zott steht für ein neues Frauenbild, für Aufbruch und Veränderung und nutzt ihre Popularität um Frauen zu neuem Selbstbewusstsein zu verhelfen. 

In dem Roman wirkt Elizabeth Zott so lebensecht, als würde man die Biografie einer Chemikerin und Feministin lesen. Tatsächlich ist sie aber eine rein fiktive Figur, mit der der steinige Weg einer Frau in den 1950er-/ 1960er-Jahren gezeichnet wird, die als Akademikerin berufliche auf zahlreiche Widerstände stößt und als unverheiratete, alleinerziehende Mutter gegen die Moralvorstellungen der damaligen Zeit verstößt. 
Elizabeth lässt sich trotz psychischer und physischer Erniedrigung und eines tragischen Verlusts nicht unterkriegen, sie steht ihre Frau und erzieht ihre Tochter dementsprechend. Wegen ihr nimmt sie auch aufgrund finanzieller Bedrängnis die Tätigkeit als Moderatorin und Köchin der Fernsehsendung "Essen um sechs" an, reißt das Konzept an sich und macht trotz der Bedenken ihres Produzenten eine kulinarische, chemische Lehrstunde daraus, die von Erfolg gekrönt ist. 

Die Schilderungen der Aufzeichnungen der Live-Sendung sind durch Elizabeth unerbittliche Art, ihre Cleverness und ihren trockenen Humor unterhaltsam und witzig, während die Vorgeschichte ihres beruflichen Wegs und die tragische Liebesgeschichte bedrückender Natur ist und aufgrund der Herabwürdigung der Frauen auch wütend macht. Zudem wird eine dramatische Familiengeschichte erzählt, die nur mittelbar mit Elizabeth zu tun hat und ein wenig den Rahmen der Geschichte sprengt. 

Durchaus charmant sind die Passagen aus Sicht des intelligenten Hundes Halbsieben. In Kombination mit der hochbegabten vierjährigen Tochter Elizabeths, die mit Erwachsenen Gespräche auf Augenhöhe führt und über Glaube und Religion philosophiert, sind die Nebenfiguren überzeichnet. 

Die Themen Selbstbestimmung und Emanzipation werden vor dem Hintergrund des historischen Settings mit einer anrührenden Familiengeschichte, macht Mut für Veränderung und zeigt, dass dafür die Gesetze der Chemie angewendet werden müssen, um diese herbeizuführen. Der Roman lebt insbesondere von der einmaligen Hauptfigur, die durch ihren ganz besonderen Charme, ihre Intelligenz und Durchsetzungskraft, die Herzen der Zuschauer ihrer Sendung, aber auch die der Leser erobert. 

Samstag, 12. August 2023

Buchrezension: Wendy Holden - Teatime mit Lilibet

Inhalt:

England, 1932: Im Alter von 22 Jahren wird Marion Crawford die Lehrerin von Prinzessin Elisabeth und ihrer Schwester Margaret. Als Marion ihre Stelle im englischen Königshaus antritt, ist sie schockiert. Das Leben im Schloss hat nichts mit der Realität zu tun. Vor allem Lilibet, die zukünftige Königin, wächst Marion ans Herz. Als überzeugte Sozialistin macht Marion es sich zur Aufgabe, Lilibet das echte Leben zu zeigen. Sie fährt mit ihr U-Bahn und Bus, geht in öffentliche Schwimmbäder und macht Weihnachtseinkäufe bei Woolworth’s. Ihr Einfluss auf die zukünftige Queen ist gewaltig. Doch Marion ahnt nicht, wie sehr sich auch ihr eigenes Leben durch die Royals verändern wird. 

Rezension: 

Marion Crawford ist Lehrerin und lebt mit Anfang 20 in Edinburgh bei ihrer Mutter. Sie engagiert sich für die Armen, unterrichtet auch ehrenamtlich und möchte sich auch zukünftig um die Kindern in den Slums bemühen, um ihnen mit Bildung ein besseres Leben zu ermöglichen. 
Als Marion das Angebot erhält, als Gouvernante für die königlichen Kinder in England zu arbeiten, möchte sie deshalb ablehnen, lässt sich jedoch von ihrer Schuldirektorin überreden, da sie auch dort etwas bewirken könne. So nimmt sich Marion vor, der wohl behüteten stets in Rüschen gekleideten Elizabeth das echte Leben zu zeigen, unterrichtet sie nicht nur, sondern macht mit ihr Ausflüge in die Stadt, fährt U-Bahn oder geht mit ihr ins Kino. Lilibet blüht dabei regelrecht auf, legt ihr Zwangsverhalten ab und begeistern mit ihrer offenherzigen Art die Bevölkerung. 
Marion, die oft nur über ihre Arbeitgeber und die gesamte königliche Familie staunen kann, möchte ihre Anstellung mehrfach aufgeben, da sie sich stets im Zwiespalt zwischen Arm und Reich befindet, in Bezug auf ihren Unterricht anfangs Kämpfe ausfechten muss und persönlich an Einsamkeit im königlichen Haushalt leidet, ist sie doch weder ein Mitglied der Familie noch hat sie die Möglichkeit, Freundschaften zu pflegen oder die Liebe auf der anderen Seite zu finden. 

"Teatime mit Lilibet" schildert die Kindheit und Jugend der zukünftigen Queen aus der Sicht ihrer treuen Gouvernante Marion Crawford, die sie sechzehn Jahre begleitete, unterrichtete und als Ersatzmutter fungierte. Die Erzählung wirkt dabei so offen und ehrlich, mit einer Hingabe für die jungen Prinzessinnen und mit Respekt, aber auch einem mutigen Eintreten für ihre Vorstellungen und Werte im Hinblick auf die Erziehung der Kinder, dass man als Leser das Gefühl erhält, einen exklusiven Blick hinter die Kulissen der Schlossmauern zu bekommen. Selbst wenn man skeptisch in Bezug auf Königshäuser und die Monarchie ist, wirken die Royals mit ihren Macken, ihrem mal bodenständigen Verhalten und nüchternem Blick auf die Welt und ihrem dann wieder weltfremden Ansichten sehr nahbar. 
Die wiedergegebenen Dialoge zwischen den jungen Schwestern, wie Elizabeth Margaret die Welt erklärt und die Schilderungen der Persönlichkeiten der Prinzessinnen - der vernünftigen Elizabeth und der Rabaukin Margaret zeugen von der Fürsorge und Liebe Marions für ihre Schützlinge.  

Neben Einblicken in den Alltag der zukünftigen Königinnen und Könige ist die auf realen Hintergründen basierende Geschichte anschaulich in den historischen Kontext eingebettet. Armut, Wirtschaftskrise, Aufstände und die Vorboten und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges runden die Geschichte um die Erziehung der Prinzessinnen ab. 

Wenn man nicht ganz so vertraut mit den familiären Strukturen der Royals der 1930er-Jahre ist, überfordert die Anzahl der Personen, Titel und zum Teil unterschiedlichen Namen ein wenig, weshalb ein abgedruckter Stammbaum im Buch hilfreich wäre. 

Die Mischung aus Familienleben im Königshaus, politischer (Welt-)lage und den persönlichen Zweifeln Marions macht die Geschichte trotz einzelner Längen bei Schilderungen des königlichen Alltags abwechslungsreich und rund.
Als lebendige Romanbiografie ist "Teatime mit Lilibet" eine Hommage an Marion Crawford, die das Leben der zukünftigen Queen positiv beeinflusst und mit Sicherheit ein Stück menschlicher hat werden lassen, die jedoch nach der Veröffentlichung des Buches "Die kleinen Prinzessinnen" von der königlichen Familie regelrecht geächtet wurde. 
Trotz der im Nachhinein undankbaren Haltung gegenüber Marion Crawford, wirft das Buch einen positiven Blick auf die Königsfamilie, die ihre Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt und ungeachtet aller menschlichen Züge aber eben aus den Standesschranken nicht ausbrechen kann - mit allen Vor- und Nachteilen, die sich aus den Privilegien ergeben.  

Freitag, 11. August 2023

Buchrezension: Theresa Prammer - Auf dem Wasser treiben

Inhalt:

Jede von Stefans Beziehungen scheitert. Die Frauen verlassen ihn entnervt, weil er nie spricht. Schon gar nicht über die große Leere, die seit dem Weggang seines Vaters in ihm ist. Stefan war erst acht, als nach einem Tag an der Donau seine Familie auseinanderbrach. Jetzt weiß er nicht, wie er auf die Frau zugehen soll, die er bewundert. Als seine Mutter Hannah von ihrer Geburtstagsfeier wegläuft und unauffindbar bleibt, ist das für ihn der nächste Schlag. Gibt es für Beziehungen ein Geheimnis, das er nicht kennt? Stefan beginnt nach Hannah zu suchen, der Gedanke, noch jemanden zu verlieren, ist für ihn unerträglich. Es ist auch eine Suche danach, was Menschen verbindet und zusammenhält. 

Rezension: 

An ihrem 55. Geburtstag wird Hannah von ihrem Ehemann mit einer Gartenparty mit 55 Gästen überrascht. In einem Gast glaubt sie John erkannt zu haben. John, der Vater ihrer drei Kinder, der die Familie vor 23 Jahren verlassen hatte. Hannah verschwindet noch am selben Abend spurlos. Ihre Kinder Fred, Emma und Stefan machen sich Sorgen und gehen von einem Zusammenbruch aus, denn Johns Verschwinden hatte Hannah damals schwer getroffen. Doch John ist schon lange verstorben, weshalb sie nicht begreifen, was Hannah jetzt auf einmal klären möchte. 
Neben der Sorge um die Mutter sind vor allem Stefan und Emma mit eigenen Problemen beschäftigt. Stefan versteht nicht, warum keine Beziehung von ihm hält und warum ihn alle geliebte Menschen verlassen. Emma hat ihre Scheidung nicht verwunden und denkt immer noch an ihren Exmann Georg, der inzwischen wieder verheiratet ist und eine Tochter hat. 

Der Roman ist aus unterschiedlichen Perspektiven der handelnden Personen geschrieben, wobei der Schwerpunkt auf den beiden Geschwistern Stefan und Emma liegt. Beide sind auf ihre Weise einsam, verbergen jedoch ihre wahren Gefühle. Geheimnisse und Schweigen prägen seit Jahren die Familie, beginnend beim Vater, der die Familie wegen eines Geheimnisses verlässt bis zur Mutter, die viel zu lange an einer Lebenslüge festhält. Beide tun dies unabhängig voneinander mit guten Absichten, um ihre Kinder zu schützen und vor Schmerzen zu bewahren.

Die Geheimnisse werden im Verlauf der Geschichte, die sich nur über wenige Tage erstreckt, allmählich gelüftet, offenbaren allerdings keine großen Überraschungen, denn durch die Perspektivwechsel erhält man schon frühzeitig eine Ahnung über den weiteren Handlungsverlauf. Auch ohne weitreichende Wendungen ist der Roman durch die tiefen Einblicke in die Gefühlswelt der Hauptfiguren abwechslungsreich und berührend. Neben der Aufdeckung der Wahrheit über das Verschwinden der Mutter und des Tods des Vaters ist eindringlich geschildert, wie die Familie wieder zusammenfindet und wie vor allem die Geschwister, die sich voneinander entfremdet hatten, wieder eine Verbindung finden und sich damit auch aus ihrer Einsamkeit befreien können. Die Symbolik des Wassers und die enge Verbundenheit der Protonen zieht sich dabei wie ein roter Faden durch den Roman und macht die Geschichte, die mit einem Fall ins Wasser, der so viel auslöste, beginnt und mit einem gemeinschaftlichen Baden der Geschwister in der Donau endet, rund.

"Auf dem Wasser treiben" ist eine melancholische Familiengeschichte über verpasste Chancen, die Sehnsucht nach Verbindungen, Schuld und Versöhnung, die empathisch geschildert ist und zeigt, welche Auswirkungen Erlebnisse aus der Kindheit auf das weitere Leben haben können. Dabei ist erhebend zu sehen, wie die Familie durch ihr unfreiwilliges Abenteuer zusammenfindet und sich jeder einzelne mit seiner Situation versöhnen kann.

Mittwoch, 9. August 2023

Buchrezension: Petra Hammesfahr - Stille Befreiung

Inhalt:

Mit achtzehn will Sandra unbedingt der Bevormundung durch ihr Elternhaus entfliehen. Ronnie scheint dafür genau der richtige Mann zu sein. Die Warnungen ihrer Familie schlägt sie in den Wind, realisiert aber schon kurz nach der Hochzeit, dass sie einem Blender auf den Leim gegangen ist. Erst zwei Jahre nach der Geburt ihrer Tochter schafft sie den Absprung. Mit der Kleinen zieht Sandra als Pflegerin für die schwerstbehinderte Rebekka in deren Haus. Jedoch die Hoffnung auf ein neues Leben zerbricht, als sie dort eines nachts überfallen wird. Noch ahnt sie nicht, dass der wahre Albtraum erst begonnen hat. 

Rezension: 

Mit achtzehn Jahren ist Sandra zum ersten Mal verliebt, wird schwanger und stürzt sich trotz Warnungen ihrer Mutter und Großmutter vor ihrem Zukünftigen und seiner dysfunktionalen Familie blauäugig in eine Ehe. Schon am Tag nach der Hochzeit ist Sandra ernüchtert, denn Ronnie, der ihr zuvor bereitwillig jeden Wunsch erfüllt hatte, stellt sich als Hochstapler heraus. Die gemeinsame Wohnung im Haus seiner Mutter muss erst entrümpelt werden und sein Reparaturgeschäft steht vor der Pleite. Nach der Geburt ihrer Tochter muss sich Sandra zudem mit ihrer psychisch instabilen Schwiegermutter auseinandersetzen, die das Kind als ihr Schätzchen an sich reißt und sich tagtäglich mit dem Säugling im Wohnzimmer verbarrikadiert. 
Sandra ist resigniert und hilflos, kann sich nur mit Hilfe ihrer Freundin Carina und ihrer Eltern über Wasser halten. Durch ihre Mutter bekommt sie auch ein Jobangebot, das sie unabhängig von ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter macht und ihr Selbstbewusstsein stärkt. Doch die Anstellung als Pflegerin für die behinderte Rebekka stellt sich nur anfangs als Akt der Befreiung dar, kommt Sandra doch von einer Hölle in die nächste.

"Stille Befreiung" ist als Roman deklariert, liest sich jedoch wie ein Psychothriller, auch wenn die Spannung sich durch die ausführliche Erzählweise sehr langsam aufbaut
Die Handlung wird rückblickend aus der Sicht von Sandra geschildert, vom Kennenlernen Ronnies, dem Verliebtsein über die frühe Hochzeit, finanzielle Not und die unsäglichen Bedingungen im Haus der Schwiegermutter. Ein weiterer Erzählstrang zwei Jahre nach der Hochzeit schildert, wie sich Sandras Lage durch ihre Naivität und Leichtgläubigkeit verschärft hat und sie um ihr eigenes Leben und das ihrer Tochter bangen muss.
So herrscht von Anbeginn eine unheimliche Stimmung mit der Aussicht, dass Sandra auf eine Katastrophe hinsteuert. Die Geschichte ist dabei keineswegs vorhersehbar, denn die Charaktere sind manipulativ und die Grenzen zwischen Gut und Böse nicht einfach zu ziehen.

Der Roman handelt von Missbrauch, körperlicher und seelischer Gewalt und wie schnell man aus Angst und Scham in eine Situation geraten kann, die man nicht unter Kontrolle hat und aus der man sich aus eigener Kraft nicht mehr zu befreien können scheint. Während eine unbekannte Bedrohung unterschwellig lauert, sind die Schilderungen aus Sandras Sicht eindrücklich und lebendig, als handelte es sich um einen Tatsachenbericht. 
"Stille Befreiung" ist wendungsreich, spannend und beklemmend, während die Erzählung auf Sandras "Sommernachtsalbtraum" zusteuert. Das Ende des Martyriums wird im Vergleich zur ausführlichen Schilderung von alltäglichen Banalitäten etwas lieblos knapp abgehandelt. 

Montag, 7. August 2023

Buchrezension: Hannah Sunderland - Wunder brauchen etwas länger

Inhalt:

Als Nell in einem Café in Birmingham auf den charmanten Iren Charlie trifft, ist sie sofort hin und weg. Dennoch verabschiedet sie sich nach der gemeinsam verbrachten Mittagspause von ihm, ohne nach seiner Nummer zu fragen - und ärgert sich maßlos darüber. Am nächsten Tag ruft Charlie wegen seines depressiven Onkels bei der Hotline für psychisch Erkrankte an, bei der Nell arbeitet, und landet ausgerechnet in ihrer Leitung. Ein glücklicher Zufall - oder Schicksal? Ohne nachzudenken, ergreift Nell die zweite Chance und bittet ihn um ein Treffen. Dabei fliegen die Funken, doch Charlie zieht sich nicht nur bei diesem, sondern auch bei weiteren Treffen immer wieder von Nell zurück. Kann es sein, dass Charlie nur Freundschaft für sie empfindet - oder steckt noch etwas ganz anderes hinter seinem Verhalten? 

Rezension: 

In ihrer Mittagspause muss sich Nell in ihrem Stammcafé notgedrungen an einen Gemeinschaftstisch setzen und lernt dabei den zurückhaltenden Iren Charlie kennen. Die beiden kommen ins Gespräch und am Ende bereut es Nell, ihn nicht nach seiner Telefonnummer gefragt zu haben. Wie es das Schicksal jedoch so will, ruft Charlie einen Tag später bei der Telefonseelsorge an, weil er sich Sorgen um seinen Onkel macht und landet bei Nell in der Leitung, die dort arbeitet. Über alle Vorschriften hinweg, ergreift Nell die Initiative und bittet Charlie um ein persönliches Treffen. Dabei kommen sich die beiden näher, doch beim Abschiedskuss zieht sich Charlie fluchtartig zurück und Nell versteht die Welt nicht mehr. Auch ein weiteres Treffen ist nicht von Erfolg gekrönt und erst als Nell Charlie zufällig wieder begegnet und all ihren Frust ablädt, beginnt Charlie sich allmählich zu öffnen und offenbart Nell, warum er wirklich bei der Telefonseelsorge angerufen hat. 

Der Roman ist aus der Sicht von Nell geschrieben, so dass nicht von vornherein klar ist, was hinter Charlies Verhalten, das einem Ghosting gleichkommt, stecken mag. Selbst als die Verhältnisse zwischen beiden geklärt sind und Charlie Nell von seiner Vergangenheit erzählt hat und was ihn bis in die Gegenwart belastet, haben die beiden noch einen weiten Weg vor sich. Sowohl Nell, die die Fronten zu ihrem Exfreund noch nicht geklärt hat als auch Charlie, eine Frau nicht loslassen kann, müssen heilen und brauchen Zeit, um bereit für eine neue Liebe zu sein. 

Die sehr zaghafte Entwicklung der Liebesgeschichte ist wie die charakterliche Entwicklung der Hauptfiguren authentisch geschildert. Ihre Gefühle und Handlungen sind glaubhaft und nachvollziehbar. Ihre Unsicherheiten, Gefühle von Schuld, Trauer und eigenen Unzulänglichkeiten sind durch Nells inneren Monolog und ihren Blick auf Charlie anschaulich geschildert. 
Die Geschichte ist durch die Themen, auf die mit einer Triggerwarnung hingewiesen wird, melancholisch und schwermütig. Einen Lichtblick bilden die Nebencharaktere wie Nells Kollege und Mitbewohner Ned sowie Charlies Onkel Carrick, die nicht nur immer für ihre jüngeren Schützlinge da sind, sondern auch die Stimmung mit ihrer ungezwungen Art auflockern. 

Die Autorin nähert sich behutsam an die Themen Tod, Trauer, Suizidgedanken und psychische Erkrankungen an. Trotz der ein oder anderen dramatischen Szene ist die Geschichte eher ruhig erzählt und kann nicht durchgängig fesseln. Nach einem anfänglichen hin und her zwischen den Hauptfiguren tritt sie ein wenig auf der Stelle. Überraschende Wendungen bleiben aus und von Romantik und fröhlicher Unbeschwertheit, die eine junge Liebe ausmacht, ist wenig zu spüren. Der Roman handelt zwar von Liebe, aber vielmehr ist Freundschaft, Solidarität und Hilfsbereitschaft zu spüren und keine Funken, die überspringen. 

"Wunder brauchen etwas länger" ist eine lebensechte Geschichte über Trauerbewältigung, zweite Chancen und den Mut für einen Neuanfang, aber für meinen Geschmack bis auf das gefällige Ende und das ein oder andere "Wunder" (bzw. konstruierte, aber charmante Zufälle) zu lange deprimierend und schwermütig, um den Roman als wie angekündigt "leicht, humorvoll und optimistisch" zu bezeichnen. 

Samstag, 5. August 2023

Buchrezension: Alexandra Andrews - Die Assistentin

Inhalt:

Florence Darrow, angestellt bei einem großen New Yorker Verlag, würde alles darum geben, mit ihren eigenen Texten Erfolg zu haben. Als sie von der geheimnisumwitterten Bestsellerautorin Maud Dixon als Assistentin engagiert wird, scheint sie ihrem Traum ein großes Stück näher gekommen zu sein. Die eher schüchterne Florence bewundert die ebenso zielstrebige wie mondäne Frau, die ihre wahre Identität geheimhält. Florence darf die Krimiautorin sogar auf eine Recherchereise nach Marokko begleiten und betritt eine faszinierende, exotische Welt. Gemeinsam erkunden die beiden Frauen die Märkte von Marrakesch und speisen in exquisiten Restaurants. Bis zu jenem verhängnisvollen Abend, an dem Maud Dixon plötzlich verschwindet – und Florence einen teuflischen Plan fasst. 

Rezension: 

Florence Darrow ist Mitte 20 und arbeitet als Lektorin bei einem Verlag in New York und träumt davon, Schriftstellerin zu werden. Als ihr, auch aufgrund ihrer Ambitionen, fristlos gekündigt wird, wird ihr wenig später von einem anderen Verlag die Stelle als Assistentin der unter Pseudonym schreibenden Bestseller-Autorin Maud Dixon angeboten. Auch wenn die Assistentenstelle im Wesentlichen aus dem Abtippen des neuen Manuskripts und der Übernahme der Korrespondenz der Autorin besteht, hofft Florence von der imposanten Maud lernen zu können. 
Für die Recherche zu ihrem neuen Buch reisen die beiden gemeinsam nach Marokko. Nach einem Abend im Restaurant erwacht Florence mit Erinnerungslücken im Krankenhaus und weiß nicht, was mit Maud geschehen ist. Aufgrund einer Verwechslung nutzt Florence die Gunst der Stunde und schlüpft in die Haut ihrer Arbeitgeberin. 

"Die Assistentin" beginnt gemächlich mit der Vorstellung der Charaktere, bis sich der Roman ab der zweiten Hälfte zu dem ersehnten Psychothriller entwickelt. 

Florence ist eine ambivalente junge Frau. Einerseits hat sie ein klares Ziel vor Augen, für das sie sich skrupellos einsetzt, andererseits ist sie unsicher, naiv und blickt neidvoll auf andere und deren Erfolge. Helen hingegen strotz nur so vor Selbstbewusstsein und verhält sich Florence gegenüber überheblich. Sie gibt ihrer persönlichen Assistentin das Kommando vor und selbst wenig von sich und dem Geheimnis ihres Erfolges preis.
Die beiden haben keine Beziehung auf Augenhöhe, bis sich das Blatt zu wenden scheint und Florence nach dem Verschwinden von Helen ihre Rolle übernimmt. Dass der Identitätsklau auf Dauer nicht gutgehen kann, ist offensichtlich und so wartet man gespannt darauf zu erfahren, wie Florence überführt wird und was es mit dem mysteriösen Verschwinden von Helen auf sich hat. Als gewiefter ThrillerleserIn ist ein Plottwist vorhersehbar, aber wie bitterböse dieser aussehen wird, ist dennoch überraschend. 


Trotz des etwas langatmigen Beginns entfaltet sich die Geschichte dynamisch. Die Verhaltensweisen der Charaktere sind insbesondere aufgrund der Vorstellung im ersten Teil für den weiteren Handlungsverlauf nachvollziehbar und runden Thriller mit einem schlüssigen Ende ab. Der Schauplatz Marokko, der durch die Beschreibungen der Souks, der Enge der Stadt Marrakesch, dem Gauklerplatz und den Übernachtungen in Riads anschaulich geschildert ist, trägt darüber hinaus dazu bei, dass man förmlich in die Geschichte hineingezogen wird. 

Freitag, 4. August 2023

Buchrezension: Alena Schröder - Bei euch ist es immer so unheimlich still

Inhalt:

Ildingen, 1950er Jahre. Evelyn Borowski hat alles, was sie sich je erträumt hat: Ein Eigenheim mit Garten, einen fürsorglichen Mann und das lang erwartete Töchterchen Silvia. Trotzdem ist sie nicht glücklich: Sie vermisst ihren Beruf als Ärztin und fühlt sich fremd in dieser süddeutschen Kleinstadt. Und Betti, ihre Freundin und Schwägerin, sorgt mit losem Mundwerk und rasantem Fahrstil für reichlich Ärger. 
1989, in Berlin liegt Aufbruch in der Luft. Silvia Borowski aber macht einen Schritt zurück. In einem geklauten Polo fährt sie Hals über Kopf Richtung Süden. Neben ihr die erst wenige Wochen alte Tochter Hannah. Was erwartet sie in ihrem Heimatort, aus dem Silvia vor vielen Jahren überstürzt geflohen ist? Ist sie stark genug, sich der Vergangenheit zu stellen? 

Rezension: 

Wenige Monate vor dem Fall der Mauer kehrt Silvia Borowski aus Berlin in ihre schwäbische Heimatstadt Ildingen zurück. Mit im gestohlenen Polo ihres Mitbewohners hat sie ihre wenige Wochen alte Tochter Hannah, von der ihre Mutter bisher nichts weiß. Evelyn nimmt die beiden stoisch bei sich auf ohne viele Fragen zu stellen. 
Evelyn ist eine "Neigschmeckte" und hat sich in ihrer neuen Heimat Ildingen nie wohlgefühlt. Auch als sie den einheimischen Karl in den 1950er-Jahren heiratete, änderte das wenig an ihrem Gefühl der Ausgeschlossenheit. Ihr Unzufriedenheit verstärkt sich, als sie nach der Geburt ihrer Tochter Silvia ihren Beruf als Ärztin aufgeben muss und nur noch "Frau Doktor" ist, weil ihr Mann Chirurg ist. Zu ihrer Tochter findet sie keine richtige Nähe und fühlt sich unter den scharfen Augen der Kleinstadt als schlechte Mutter, wenn Silvia nicht den Erwartungen entspricht. 

"Bei euch ist es immer so unheimlich still" erzählt die Geschichte von Evelyn in den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre, als sie ihren Beruf aufgibt und eine Familie gründet und von ihrer Tochter Silvia, die 1989 nach langen Jahren der Abwesenheit in ihre Heimat zurückkehrt, wo eine Aussprache mit ihrer Mutter überfällig ist. Der Roman schließt damit die Lücken des Bestsellers „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“, in der die Enkelin Hannah ihre Familiengeschichte erforscht, kann jedoch auch alleinstehend und ohne Vorwissen des Vorgängers gelesen werden. 

Evelyn und Silvia sind gegensätzliche Charaktere. Während Silvia die rebellische Ausbrecherin ist, die in Berlin in einer WG in einem besetzten Haus ein neues Leben angefangen hat und alle Brücken in die Heimat abgebrochen hatte, ist Evelyn diejenige, die stets den schönen Schein einer Vorzeigefamilie bewahren wollte, aber darüber nie glücklich geworden ist. 

Im Wechsel zwischen den Zeitebenen erfährt man mehr über das Mutter-Tochter-Verhältnis und warum es Silvia so schwer gefallen ist, nach Hause zu kommen. Die Vergangenheit in den 1950er- und 1960er-Jahren beleuchtet dabei Evelyns Rolle als Hausfrau und Mutter und Silvias Kindheit in der Kleinstadt, in der sich auch sie nie wirklich zu Hause fühlte. 
Evelyns persönliches Unglück und ihre Ansprüche an sich selbst und andere sind mit ursächlich für das angespannte Verhältnis zu ihrer Tochter, was letztlich auch zum Bruch der Beziehung zwischen ihnen führte. Silvia fühlte sich von ihrer Mutter nie wirklich geliebt und litt darunter, ihren Erwartungen nicht zu genügen. Nur langsam nähern sich die beiden Frauen nach Jahren der Trennung einander an. 

Die Geschichte ist nicht nur durch den Wechsel der Erzählebenen abwechslungsreich erzählt. Sie fängt zudem durch liebevolle alltägliche Details über Musik, Fernsehen oder Kleidung den Zeitgeist der geschilderten Jahre ein und macht sie durch den nicht aufdringlichen Dialekt, der in Dialogen in der fiktiven schwäbischen Kleinstadt durchsticht, lebensecht und lebendig. 

"Bei euch ist es immer so unheimlich still" ist ein Zitat einer Nachbarin in dem Buch, die sich sorgt, dass bei den Borowskis gar kein Babygeschrei zu hören ist, als Silvia neu geboren ist. Der Titel passt perfekt zum Inhalt des Romans, steht er doch für die Unfähigkeit, Worte zu finden, die Angst, Dinge beim Namen zu nennen und das jahrelange Schweigen zwischen Mutter und Tochter. 

Wie schon „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ ist auch "Bei euch ist es immer so unheimlich still" ein kraftvoller Familienroman über Generationen von Frauen, dem Muttersein und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um Verborgenes zu lüften und Konflikte zu klären. Auch wenn ich den Vorgängerroman als bedeutungsschwangerer und gehaltvoller empfunden habe, konnte mich auch der Nachfolger gut unterhalten.