Dienstag, 6. Juni 2023

Buchrezension: Elena Ferrante - Die Geschichte eines neuen Namens (Neapolitanische Saga, Band 2 - Jugendjahre)

Inhalt:

Lila und Elena sind jung, und sie sind verzweifelt. Lila hat am Tage ihrer Hochzeit erfahren, dass ihr Mann sie hintergeht – er macht Geschäfte mit verhassten Camorristi. Arm geboren und durch die Ehe schlagartig zu Geld und Ansehen gekommen, brechen für Lila leidvolle Zeiten an. Elena hingegen verliebt sich Hals über Kopf in einen jungen Studenten, doch der scheint nur mit ihren Gefühlen zu spielen. Sie ist eine regelrechte Vorzeigeschülerin geworden, muss aber feststellen, dass das, was sie sich mühsam erarbeitet hat, in ihrer neapolitanischen Welt kaum etwas gilt. Halt finden die beiden Frauen einzig in ihrer Freundschaft, ihre Liebe füreinander wirkt grenzenlos. Wären sie nur beide nicht immer wieder von dem brennenden Verlangen getrieben, die andere auszustechen. 

Rezension:

Lila ist frisch mit dem gut situierten Stefano Caracci verheiratet, aber bereut bereits am Tag der Hochzeit die Ehe mit ihm eingegangen zu haben. Sie ist unglücklich, verbittert, verbirgt ihre Gefühle jedoch hinter einer unnahbaren Arroganz, die es schwer macht, sie zu mögen. Darunter leidet auch immer wieder ihre Freundin Lenù. Diese geht im Gegensatz zu Lila weiterhin zur Schule, obwohl sie diese zeitweise abgebrochen hatte. Sie lernt und arbeitet fleißig, wird dabei von Lila herausgefordert und finanziell unterstützt, hat trotz ihrer Leistungen jedoch nur wenig Selbstvertrauen. Von Antonio wurde sie verlassen, schwärmt jedoch insgeheim ohnehin für Nino, der inzwischen studiert. 
Als Lila von ihrer Familie gezwungen wird, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen, da sie nach einer Fehlgeburt nicht wieder schwanger geworden ist, verordnet dieser ihr, sich zu erholen. Aus eigenem Interesse überredet Lenù sie, den deshalb geplanten Urlaub auf Ischia zu verbringen, wo sich Nino aufhält. Doch der Sommer entwickelt sich ganz anders als erwartet und wieder ist es Lila, die Lenù verletzt, was lange Zeit zu getrennten Wegen der einstigen "Freundinnen" führt. 

"Die Geschichte eines neuen Namens" ist nach "Meine geniale Freundin" der zweite Band der "Neapolitanische Saga" und handelt von den Jugend- und frühen Erwachsenenjahre von Lina und Lenù. 

Der zweite Teil der Tetralogie setzt Band 1 nahtlos fort und schildert die Jahre von 1960 bis 1967.
Die Anzahl der handelnden Personen ist groß. Die Vorstellung zu Beginn des Romans bietet jedoch einen bequemen Einstieg in Band 2 und eine gute Übersicht zum Zurückblättern während des Handlungsverlaufs. 

Wieder ist die Geschichte aus Sicht von Lenù erzählt, die rückblickend aus ihrem Leben mit Lila berichtet. Die beiden verbindet eine Art Hassliebe, die die Faszination der Buchreihe ausmacht. Es ist keine Freundschaft auf Augenhöhe, denn Lila ist die dominante von beiden, gibt den Takt vor und Lenù beugt sich ihrem Willen. Beide sind sie missgünstig und eifersüchtig auf die andere, neiden einander das, was sie nicht haben können und wollen aus dem Käfig des Rione ausbrechen.

Trotz aller Differenzen, Enttäuschungen und Grenzüberschreitungen spornt Lila Lenù nach wir vor an. Sie lernt fleißig, verdient Geld durch Nachhilfestunden und kann im Gegensatz zur verheiraten Lila auf weiterführende Schulen gehen.
Lenù bewundert Lila für ihr Selbstbewusstsein, ihren Mut und ihre Abenteuerlust, dafür dass sie das tut, was ihr gefällt, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Sie scheut kein Risiko und ist in ihrer Dramatik sogar bereit, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen.
Doch Lila kann gemein sein, auch Lenù gegenüber, so dass man sich unwillkürlich fragt, was die beiden zusammenhält, was sie zu Freundinnen macht.

Neben des Porträts dieser anstrengenden Freundschaft wird Neapel in den 1960er-Jahren anschaulich dargestellt. Das Viertel mit den Geschäften und Familien, die alle wirtschaftlich oder verwandtschaftlich miteinander verbunden sind, wird leicht vorstellbar. Mafiöse Strukturen und Gewalt sind allgegenwärtig. Das bekommt vor allem Lila am eigenen Leib zu spüren, was sie jedoch nicht davon abhält, zu provozieren. Die Rolle der Frau wird auf das Kinderkriegen und die Mitarbeit in den jeweiligen Familienbetrieben oder einfachen Angestelltenverhältnissen im Rione beschränkt. Doch Lila und Lenù wollen mehr, mehr Bildung, mehr Anerkennung, mehr persönliche Freiheit, mehr Liebe. Diese Sehnsucht macht Lilas Gemeinheiten, ihren Trotz und ihre regelrechte Kampfeslust erklärbar, während Lenù auch ohne die Unterstützung ihrer Eltern ihre Wissbegier befriedigt, um dem Traum von einem besseren Leben näher zu kommen. 

Als sich Lenùs und Lilas Wege trennen und Lenù während des Studiums in Pisa nur noch vom Hörensagen über die Ereignisse in Neapel berichten kann, verliert der Roman ohne die Rivalität der beiden Frauen seinen Reiz und zieht sich im letzten Drittel arg in die Länge. 

Band 2 endet wiederum mit einem Cliffhanger und macht neugierig auf die Fortsetzung und der weiteren (getrennten) Lebenswege von Lila und Lenù als erwachsene Frauen.



Montag, 5. Juni 2023

Buchrezension: Lea Santana - Der Sommer der Blütenfrauen

Inhalt:

Als die impulsive Rose auf einem Biohof anheuert, ist sie sogleich fasziniert von dem liebevoll angelegten Blumenfeld der verstorbenen Gärtnerin Martje. In deren Notizbuch findet Rose köstliche Blütenrezepte, die sie zu einem kulinarischen Blog inspirieren – und das mit großem Erfolg. Die Französin Marguerite, die in Paris gegen die Schließung ihres kleinen Restaurants ankämpft, ist bezaubert von Roses duftigen Rezepten. Ebenso wie die Foodjournalistin Viola, die in Italien vor einer schweren Entscheidung steht. Als sich die drei Frauen im Piemont treffen, geben sie sich ein Versprechen: Gemeinsam wollen sie einen lang gehegten Traum zum Leben erwecken. 

Rezension: 

Nachdem Rose schon wieder einen Job verloren hat, möchte sie als Erntehelferin über den Sommer arbeiten und wird unverhofft als Saisonarbeiterin auf einem Biohof eingestellt. Dort finden sie nicht nur ein unbetreutes Blumenfeld sondern auch die Aufzeichnungen der verstorbenen Martje, die mit Blüten experimentierte und Rezepte entwickelte. Auf ihr Talent für Fotografie aufmerksam gemacht, wird Rose zu einem Blog inspiriert und setzt damit auch Martjes Wunsch um, ihre Rezepte zu veröffentlichen. 
Marguerite wurde von ihrem Ehemann verlassen, der damit auch ihr Restaurant, in dem er als Patron fungierte, im Stich ließ. Mit Hilfe ihrer engagierten Mitarbeiter versucht sie das Restaurant vor der Schließung zu retten und neu aufzubauen. Anregungen für neue Rezepte findet sie von einer deutschen Bloggerin. 
Viola arbeitet als Journalistin und Restauranttesterin in Verona. Sie fühlt sich fremdbestimmt, versteckt sich vor ihrer Familie, die sie unter Druck setzt zu heiraten und bricht nach einem Streit endgültig mit ihrem Chefredakteur. 
Die drei unterschiedlichen Frauen treffen sich im Piemont bei einer Foodmesse und werden durch ein gemeinsames Erlebnis zusammengeschweißt. Sie versprechen sich, auch in Zukunft füreinander da zu sein. 

"Der Sommer der Blütenfrauen" handelt nicht nur im Sommer, sondern beginnt im Frühling und zieht sich durch das gesamte (Garten-)jahr. Die Geschichte ist abwechselnd aus den Perspektiven von Rose, Marguerite und Viola geschildert und führt die/ den Leser*in von Deutschland nach Frankreich und Italien. 

So unterschiedlich die Frauen aufgrund ihrer Berufe, Herkunft, persönlichen Erfahrungen und Voraussetzungen auch sind, so verbindet sie doch alle drei eine innere Leere, die im Verlauf der Handlung durch neue Herausforderungen, ihre Liebe zum Essen und ihre Freundschaft gefüllt wird. 
Die jüngste Rose, die aufgrund ihrer vagabundierenden Eltern heimatlos ist, sich einsam fühlt und durch Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten hat, findet durch ihre Arbeit auf dem Biohof in den Pflanzen und der Fotografie ihre Berufung. Marguerite überwindet die Trennung von ihrem betrügerischen Ehemann, nutzt die Herausforderung und macht sich mit einem neuen Konzept zur neuen Chefin des Restaurants "Le Bon Goût", bis sie ihre Liebe zum Kochen als Küchenchefin umsetzen kann. Viola übernimmt mehr Verantwortung im Familienbetrieb und baut das dortige Restaurant im Weingut neu auf. 

Titel und Cover suggerieren eine eher fröhliche Geschichte über die Freundschaft dreier Frauen, tatsächlich ist der Roman lange Zeit jedoch eher betrüblich. Die Hauptfiguren haben alle mit existentiellen Problemen zu kämpfen und verhalten sich dementsprechend angespannt. Insbesondere Rose und Viola wirken abweisend und trotzig, so dass man erst mit mehr Hintergrundwissen Verständnis für sie und ihre Launen aufbringen kann. Marguerite hat dagegen ein einnehmendes Wesen, wird in ihrer Beschreibung jedoch zunächst arg auf ihren kurvigen Körper und mehrfach auf ihren schokoladen- oder puderzuckerverschmierten Mund reduziert. 

Durch die Schwierigkeiten, die es zu bewältigen gilt und die drei ganz unterschiedlichen Schauplätze in verschiedenen Ländern ist die Geschichte abwechslungsreich und vielseitig. Die Freundschaft, die sich im Verlauf des Romans entwickelt, wirkt jedoch arg bemüht, da die Frauen trotz Gemüseanbau/ Foodfotografie/ Kochen/ Foodjournalismus/ Weinbau, was sie kulinarisch und beruflich verbindet, keine Gemeinsamkeiten haben und das Versprechen der gegenseitigen Treue und Unterstützung aus der Not heraus in Champagnerlaune entstanden ist und trotz der späteren Umsetzung ein wenig halbherzig und für die Geschichte konstruiert wirkt. Eine gegenseitige Empathie und Wertschätzung sind kaum nachzuempfinden. Vor allem Rose und Viola machen es mit ihren (sinnlosen) Streitigkeiten einer Freundschaft schwer. 

Während Marguerites Probleme und persönlichen Entwicklungen nachvollziehbar ausgeführt sind, wird Violas Rolle stark vernachlässigt. Ihr Geheimnis, das sie von ihrer Familie trennt, wird nur mit einem Halbsatz erwähnt und erscheint damit völlig lieb- und belanglos in die Geschichte integriert. 

"Der Sommer der Blütenfrauen" ist ein Roman über drei unterschiedliche Frauen, die durch einen Zufall zusammenfinden und über die gemeinsame Leidenschaft für Genuss und Kulinarik mit einander verbunden werden und sich gegenseitig dabei unterstützen, ihre Probleme, die ihre Leben aus den Fugen geraten haben lassen, zu lösen. Es ist ein Roman über Neuanfänge und Selbstentfaltung, über Versöhnung und die Kraft der Gemeinschaft, Dinge zu erreichen, der an mancher Stelle übertrieben dramatisch inszeniert ist und insgesamt nicht ganz rund wirkt. 

Samstag, 3. Juni 2023

Buchrezension: Jasmin Schreiber - Marianengraben

Inhalt:

Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt. Erst die Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie beide zu sich selbst zurückbringt – auf die eine oder andere Weise. 

Rezension: 

Paulas Bruder Tim ist gestorben und auch zwei Jahre nach seinem Tod weiß sie nicht, wie sie ohne ihn weiterleben soll. Aufgrund ihrer Depression macht sie eine Therapie, kann sich aber nicht wirklich öffnen. Als sie sich eines nachts aufraffen kann, um Tims Grab ohne störendes Publikum zu besuchen, trifft sie auf dem Friedhof auf den 83-jährigen Helmut, der dabei ist, die Urne seiner Freundin auszugraben. Er möchte ein Versprechen einlösen und plant eine Reise in ihre alte Heimat. Paula, die nicht weiß, wohin mit sich selbst, begibt sich zusammen  mit dem Misanthrop auf einen Roadtrip, der ihr dabei hilft, die Trauer zu verarbeiten und die nagenden Schuldgefühle loszulassen. 

Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive der trauernden Paula erzählt, deren Leben still zu stehen scheint. Sie hat sich in ihre Trauer zurückgezogen und sieht keinen Grund mehr selbst weiterleben zu wollen. Sie gibt sich zudem die Schuld am Tod ihres Bruders, obwohl oder gerade weil sie nicht da war, als er ertrank. 
Helmut, der bereits Verluste erlitten und nur noch einen Hund an seiner Seite hat, ist der erste Mensch, der sie zu verstehen scheint und dem sie ihre Gefühle offenbaren kann. Auf dem ungewöhnlichen Roadtrip sind sie sich gegenseitig mental oder körperlich eine Hilfe. 

Der Roman handelt von Trauer, vom Sterben, vom Abschiednehmen, aber auch von neuen Perspektiven und vom Mut trotz Schmerz weiterleben zu wollen. Trotz der traurigen Thematik ist das Buch nicht melancholisch oder deprimierend. Die außergewöhnliche Reise ist bewusst unterhaltsam angelegt und führt zu manch absurd-witziger Situation. Das wirkt vielleicht etwas zu gewollt komisch und gekünstelt, driftet jedoch nicht ins Alberne ab. 
Durch die vielen einfühlsam geschilderten Erinnerungen wird deutlich, wie nahe Pauls und Tim sich trotz des großen Altersunterschieds standen. Sie hatten so eine innige Beziehung, dass nachvollziehbar ist, wie schwer Paula vom Verlust gezeichnet ist. Auf dem Roadtrip findet sie wieder zu sich selbst und zur Besinnung, dass sie auch für Tim weiterleben muss, der viel zu früh gestorben ist und noch so viel in seinem Leben hätte erreichen und bewirken können. 

Auch wenn die Geschichte um einen generationenübergreifenden Roadtrip, einem skurrilen Ascheverstreuen und der Entwicklung einer Freundschaft mit einem mürrischen Charakter sicher nicht neu oder sonderlich kreativ ist, ist die Reise unterhaltsam und die aufgesuchten Orte leicht vorstellbar. Berührend sind Paulas Erinnerungen und die Gespräche mit Helmut über das Sterben und auch die Symbolik um das Wasser und den Marianengraben, in den sich Paula so lange hinunter gezogen fühlt, gibt der Geschichte einen roten Faden und macht sie am Ende rund.