Freitag, 19. August 2022

Buchrezension: Daniela Dröscher - Lügen über meine Mutter

Inhalt:

"Lügen über meine Mutter" ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht? 

Rezension:

Ela wächst in den 1980er-Jahren in einem Dorf im Hunsrück auf. Es ist ein augenscheinlich idyllisches Leben. Der Vater arbeitet, die Mutter kümmert sich als Hausfrau um die Familie, sie hat ihre Großeltern um sich und die beste Freundin Jessy wohnt nebenan. Tatsächlich ist das Familienleben von Spannungen und Streitigkeiten geprägt, die insbesondere vom Vater ausgehen. Er ist unzufrieden mit seine Frau, schämt sich für ihr Übergewicht und drängt sie immer vehementer dazu abzunehmen. Erpresst beugt sich die Mutter ihrem Ehemann und probiert verschiedene Diäten aus. Der Jojo-Effekt bleibt dabei nicht aus, statt abzunehmen wird die Mutter immer dicker und hat bald mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. 
Erzählt werden die Jahre zwischen 1983 und 1987, in denen Ela die Beziehung ihrer Eltern beobachtet und in ständiger Sorge vor der Trennung der Eltern, vor Armut aufgrund des ausschweifenden Lebensstils des Vaters, um die Gesundheit der Mutter und Gefahren für die jüngere Schwester. 

Trotz der nur eingeschränkten Kindessicht einer Sieben- bis Elfjährigen ist die Geschichte, die autobiografische Züge enthält, authentisch dargestellt. Es sind Erinnerungen von Ela aus ihrer Kindheit, ergänzt durch kurze Kapitel aus der Perspektive der Erwachsenen, mitunter im Zwiegespräch mit ihrer Mutter. 

Es ist erschütternd zu lesen, wie der Vater mit seiner Ehefrau umgeht, wie er permanent ihr Gewicht kritisiert und sie versucht, kleinzuhalten. Gleichzeitig macht die Passivität der Mutter wütend, die sich dem Willen ihres Mannes immer wieder beugt und nur halbherzige Versuche unternimmt, zu rebellieren. Sie ist gefangen in der Rolle als Mutter und pflegende Angehörige, denn sie kümmert sich weniger um sich und ihre Gesundheit, sondern vielmehr um ihre beiden Töchter, das Nachbarskind, das wie eine Pflegetochter aufgenommen wird und die demente Mutter. Ihr streng getakteter Tagesablauf sieht keine freie Zeit vor, bis sie abends müde vor den Fernseher sinkt. Ob das Essen für sie dabei tatsächlich eine Art Lohn für ihre Arbeit ist oder auch eine Trotzreaktion auf den Druck des Ehemanns zu werten ist, bleibt offen.  
Ela wird als Kind zu viel Verantwortung aufgebürdet, wenn die Eltern sie jeweils auf ihre Seite ziehen wollen. Sie sitzt zwischen den Stühlen und ist stets voller Angst, dass das System Familie kollabiert. 

"Lügen über meine Mutter" ist die Geschichte einer unglücklichen Ehe, beobachtet aus Kindessicht und ein Roman über die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, bei der der Ehefrau die unbezahlte Care-Arbeit aufgebürdet wird und die darüber hinaus noch dafür kritisiert wird, nicht dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen. 
Die Geschichte ist dabei nüchtern ohne Einblicke in die Gefühlswelten der Erwachsenen geschildert, weshalb ihre Verhaltensweisen nicht in Gänze erklärbar sind. Die Handlung dreht sich ein wenig Kreis, wie der ewige Kreislauf aus zunehmen und abnehmen, um dann ohne Aha-Erlebnis zu enden. Am Ende offenbart sich, was zu erahnen war, dass die Ehe zum Wohl der Kinder und um den schönen Schein zu wahren, aufrecht erhalten wurde. 

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