Freitag, 5. August 2022

Buchrezension: Erin Litteken - Denk ich an Kiew

Inhalt:

1929. Behütet und geliebt wächst Katja in einem Dorf bei Kiew auf. Ihre Familie ist nicht reich, kann sich aber von ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren. Bis Stalins Handlanger die Dorfbewohner zwingen, dem Kollektiv beizutreten. Wer sich weigert, wird mitgenommen und nie wieder gesehen. Anfangs gibt es für Katja dennoch auch glückliche Stunden. Sie ist in den Nachbarssohn verliebt und ihre Schwester in dessen Bruder. Doch schon bald muss Katja sich jeden Tag Mut zusprechen, um weiterzumachen angesichts des Schreckens um sie herum. 
Jahrzehnte später entdeckt Cassie im Haus ihrer Großmutter in Illinois ein Tagebuch. Nie hat diese über ihre ukrainische Herkunft gesprochen. Seit einiger Zeit aber verhält sie sich merkwürdig. Sie versteckt Lebensmittel und murmelt immer wieder einen Namen, den keiner aus ihrer Familie je gehört hat: Alina. 

Rezension:

Cassies Ehemann ist vor 14 Monaten bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und seitdem spricht ihre fünfjährige Tochter Birdie nicht mehr. Beide sind in ihrer Trauer gefangen, weshalb Cassies Mutter Anna beschließt, dass Cassie zurück in ihrer Heimat Illinois und zu ihrer Großmutter Bobby ziehen soll, die immer seltsamer wird und erste Anzeichen von Demenz zeigt. Dort findet Cassie ein Tagebuch, dass sie jedoch nicht lesen kann, da es ihre Großmutter auf Ukrainisch verfasst hat. Erst durch den hilfsbereiten Nachbar Nick, der selbst ukrainische Wurzeln hat und vor allem wieder in Birdies Leben mehr Freude bringt, wird Cassie gewahr, was ihre Großmutter in der Ukraine während des Holodomor erleben musste. 
Der zweite Erzählstrang handelt von Katja und ihrer Familie, die in den 1930er-Jahren in einem Dorf in der Nähe von Kiew wohnten und Bauern waren. Sie werden der Kollektivierung unterworfen und gezwungen, der Kolchose beizutreten, nachdem jeder Widerstand zwecklos war und so viele Menschen in ihrer Umgebung getötet oder deportiert wurden. Katja hat ihrem Ehemann versprochen, alles in ihrem Tagebuch für ihre Nachkommen aufzuschreiben, was sie erleiden müssen, um die Erinnerungen am Leben zu erhalten. 

Beide Erzählstränge handeln von Verlust und Trauer und auch wenn man mit den jeweils betroffenen Figuren innig mitfühlen kann, erschüttert doch vor allem die Handlung in der Vergangenheit, die Jahre 1929 bis 1934, als die Sowjetunion die Bauern in der Ukraine zwangsweise kollektivierte und ihren Besitz verstaatlichte. Schon bevor Millionen von Menschen an Hunger starben, wurde all diejenigen, die sich nicht beugten oder gar zur Wehr setzten, deportiert oder direkt getötet. Ganze Familien wurden ausgelöscht und auch Katja musste miterleben, wie sie alles, was sie sich eigenhändig erwirtschaftet hatten, verloren und sich von geliebten Menschen trennen mussten. 

Nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignissen macht die schreiende Ungerechtigkeit und die Grausamkeit in der Umsetzung wirtschaftlicher und politischer Ziele unfassbar wütend. So ist auch nachvollziehbar, dass Katja einfach nur vergessen wollte und weder ihrer Tochter noch ihrer Enkelin von ihrem Leben erzählte, bevor sie nach Amerika kam. Erst an ihrem Lebensende löst sie ihr Versprechen ein, die Tragödie durch ihr Tagebuch offenzulegen. 

Während der Erzählstrang in der Vergangenheit fast ausschließlich schmerzhaft ist, setzt die Gegenwart im Frühsommer 2004 einen Gegenpol und schenkt Hoffnung bei der Aussöhnung mit der Vergangenheit, bei der Verarbeitung von Traumata und dem Mut, dem Leben eine zweite Chance zu geben. 
Auch wenn die positive Entwicklung etwas schnell und fast wie von allein voranschreitet, ist "Denk ich an Kiew" eine fesselnde Geschichte über Generationentraumata, Familiengeheimnisse und den Versuch, Frieden zu finden und gleichzeitig eine Geschichte über Liebe - die romantische Liebe und die zur Familie.

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