In Garner County heißt es, dass junge Frauen die Macht besitzen, Ehemänner aus ihren Betten zu locken und Jungen in den Wahnsinn zu treiben. Um diese Kräfte zu verlieren, werden sie für ein Jahr in die Wildnis verbannt. Wer zurückkommt, wird verheiratet oder ins Arbeitshaus geschickt. Aber es kommen nie alle lebend zurück.
Nur in ihren Träumen ist Tierney James frei, umgeben von Rebellinnen. Doch als ihr Gnadenjahr beginnt, spürt sie erst, wie tief verwurzelt der Hass ist. Denn nicht die Natur oder die tödlichen Wilderer, die ihnen auflauern, sind die größte Gefahr. Es sind die Mädchen selbst.
Rezension:
Als Tierney James 16 Jahre alt ist, beginnt ihr Gnadenjahr. Wie alle Mädchen in ihrem Alter wird sie von Wächtern in ein Camp außerhalb der Stadt gebracht, wo sie ihre Magie verlieren sollen. Diese Magie der geschlechtsreifen Frauen sei dafür verantwortlich, Männer in Versuchung zu führen und in den Wahnsinn zu treiben. Nach dem Gnadenjahr werden die Mädchen, die vorab von einem Freier einen Schleier erhalten haben, verheiratet, während die anderen als Mägde in Haushalten, auf den Feldern oder schlimmstenfalls verstoßen in den Außenbezirken arbeiten müssen. Aber nicht alle werden das inzwischen 47. Gnadenjahr überleben. In der Wildnis sind die Mädchen auf sich alleingestellt und es sind nicht nur die Wilderer, die nach ihren Körpern lechzen, um von ihren magischen Fähigkeiten profitieren zu können, sondern die Mädchen selbst, die sich das Leben - frei von den Regeln von Garner County - zur Hölle machen.
Die Idee hinter der Geschichte erinnert an "Der Report der Magd" von Margaret Atwood, ist allerdings eher auf jugendliche Leser*innen ausgerichtet, aber ähnlich schonungslos und brutal geschildert.
Der Roman wird aus der Sicht der 16-jährigen Tierney erzählt, die die mittlere von insgesamt fünf Töchtern eines Arztes ist. Sie hinterfragt das System in Garner County, das Frauen als Hexen verteufelt, massiv in ihren Rechten einschränkt und mit willkürlichen Bestrafungen an Leib und Leben bedroht. Sie versteht nicht, dass die Frauen, die den Männern in ihrer Anzahl weit überlegen sind, nicht aufbegehren und das System zu ihrem eigenen Schutz stürzen. Ihr Traum ist es nicht, Ehefrau zu werden und sich einem Mann unterzuordnen. Im Gegensatz zu allen anderen Mädchen zieht Tierney die Feldarbeit vor, aber es ist nicht ihre Entscheidung.
Das System, das in dem dystopischen Garner County herrscht, ist erschreckend genug, aber das Gnadenjahr übertrifft alle Vorstellungen der Mädchen, die bisher nur ahnen konnten, warum nie alle wieder aus dem Camp zurückgekehrt sind. Neid, Argwohn, Eifersucht und Hass herrschen unter den Mädchen und die Situation im Camp führt bald zur Eskalation. Die Mädchen sind indoktriniert und glauben daran, dass sie magische Fähigkeiten haben, die sie in diesem Jahr tunlichst verlieren müssen, um befreit und gerettet zu werden. Wie sie versuchen, diese Magie herauszukitzeln und was die einzelnen schier kopflos dafür tun müssen, ist gnadenlos.
Tierney ist eine intelligente, freiheitsliebende und sympathische Rebellin, die von ihrem Vater viel gelernt hat, was ihr das Überleben in der Wildnis erleichtert. Dennoch ist es verwunderlich, was sie alles körperlich und auch psychisch aushalten kann, ohne sich selbst und die anderen Mädchen aufzugeben.
Der Roman ist so bildhaft und lebendig dargestellt, dass man unweigerlich mit Tierney, aber auch den anderen Gnadenjahrmädchen, mitleidet. Auch die Vorstellung eines Garner County, in der eine Minderheit von Männern eine Mehrheit von Frauen kleinhält und unterdrückt, ist nicht abwegig, sondern durchaus vorstellbar. Gespannt verfolgt man Tierney Überlebenskampf im Gnadenjahr, wobei eine Wendung auch noch für einen Hauch Romantik sorgt und Hoffnung schenkt, dass es selbst für Menschen aus Garner County noch die Chance auf eine freie Liebe geben kann.
"The Grace Year" ist eine schockierende und spannende Dystopie über ein patriarchalisches Herrschaftssystem, in dem ein gefährlicher Aberglaube herrscht, und einer starken Hauptfigur, die für Mut, Verstand, Rebellion, Freundschaft und Liebe steht. Das Ende, das Raum für eigene Interpretationen zulässt, ist passend gewählt für einen Ort, in dem man niemandem trauen kann, in dem es aber trotz allem zarte Bande gibt, die die Möglichkeit bieten, zu wachsen und früher oder später eine Veränderung herbeizuführen.
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