Mittwoch, 6. Mai 2020

Buchrezension: Adeline Dieudonné - Das wirkliche Leben

Inhalt: 

Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt.
In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät. 


Rezension: 

Die namenlose Ich-Erzählerin, die zehn Jahre alt ist, lebt zusammen mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder bei ihren Eltern am Waldrand einer Reihenhaussiedlung. Der Vater ist ein jähzorniger Patriarch, der seine Familie seelisch und körperlich misshandelt. Während seine Ehefrau überwiegend die Schläge abbekommt, leben die Kinder in permanenter Angst, Auslöser eines Wutanfalls ihres Vaters zu sein. Das einzige, was das Mädchen aufrecht erhält, ist das Lachen ihres Bruders, den sie unbedingt schützen möchte. 
Als die beiden Geschwister eines Sommers Augenzeugen eines schrecklichen Unfalls in einem Eiswagen werden, macht sich das Mädchen schwerwiegend Vorwürfe, da er während ihrer Bestellung passiert ist. Gilles ist traumatisiert, spricht nicht mehr, wendet sich von seiner Schwester ab.  
Das Mädchen hat von nun an nur noch ein Ziel: Sie möchte in die Vergangenheit reisen, den Unfall verhindern und das Lachen ihres Bruders wieder herstellen. Nur auf diese Weise erträgt sie den Alltag, den es durch die Zeitreise bald nicht mehr in dieser Form geben wird. 
Enttäuscht davon, das eine Reise in die Vergangenheit wie in dem Film "Zurück in die Zukunft" nicht so einfach möglich ist, stürzt sich das wissbegierige und intelligente Mädchen auf die Naturwissenschaften, während Gilles seinem Vater über die Jahre hinweg immer ähnlicher wird. 

"Das wirkliche Leben" ist eine tragische, brutale Familiengeschichte. Geschildert aus der Ich-Perspektive eines unschuldigen Mädchens ist der Roman besonders eindringlich und geht zu Herzen. Zu Beginn, als das Mädchen noch träumt, etwas an ihrer Situation ändern zu können, ist die Stimmung noch hoffnungsvoll, auch wenn man als Leser entsetzt ist, wie abfällig das junge Mädchen über ihren gewalttätigen Vater, aber auch ihre passive Mutter denkt, die sie nur als "Amöbe" bezeichnet. Die Stimmung kippt, als das Mädchen erkennt, dass sie die Zeit nicht so einfach zurückdrehen kann. Sie fühlt sich daraufhin nicht nur von ihren Eltern ungeliebt, sondern auch von ihrem Bruder verlassen. Ihr Weg erscheint aussichtslos und vorgezeichnet. Wie sollen Kinder, die in so einer Atmosphäre von Angst und Gewalt aufwachsen, als Erwachsene eine reelle Chance haben? Der Bruder zeigt schon in jungen Jahren erste Anzeichen dafür, dass auch die Zukunft nicht veränderbar erscheint. 
Trotz aller Tristesse entfaltet der Roman eine Sogwirkung, da man als Leser auf einen Ausweg aus der Misere hofft - denn wie lange können Schläge vor Nachbarn, Mitschülern und (Nachhilfe)lehrern im Verborgenen bleiben? 
"Das wirkliche Leben" erzählt ein Familiendrama, eindringlich und ungeschönt. Das Ende des Romans ist zum Verlauf der Geschichte passend und wirkt authentisch, schenkt jedoch wenig Hoffnung, wenn am Ende nur eine Botschaft bleibt: Gewalt erzeugt Gegengewalt. 


  

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