Mittwoch, 8. Dezember 2021

Buchrezension: Kathleen Winter - Sein Name war Annabel

Inhalt:

Croydon Harbour, ein verschlafener kleiner Ort an der Küste Labradors, 1968. Die Aufbruch- und Proteststimmung der Zeit ist nicht bis in diese abgelegene Gegend vorgedrungen, als ein freudig erwartetes Baby zur Welt kommt. Doch dieses Kind ist anders: nicht ganz Junge und auch nicht ganz Mädchen. Die Eltern – in erster Linie jedoch der Vater – entscheiden, es als Jungen aufwachsen zu lassen. Aber das männliche Rollenbild, verhaftet in alten Traditionen und bestimmt durch Jagen und Fischen, bleibt dem Jungen fremd. Und er sucht einen Weg, um zu sich selbst zu finden und selbstbestimmt leben zu können. Zur Seite steht ihm dabei eine gute Freundin der Eltern, die um sein Geheimnis weiß. 

Rezension:

In der kanadischen Provinz Labrador kommt im Jahr 1968 ein Baby zur Welt, das weder eindeutig Junge noch Mädchen ist. Es hat beide Geschlechtsmerkmale und von dem Geheimnis wissen nur seine Eltern, Jacinta und Treadway, sowie die Nachbarin und Freundin Thomasina, die bei der Geburt dabei war. Treadway trifft die Entscheidung, das Baby als Jungen großzuziehen und versucht ihm Freude an Jungssachen zu vermitteln, während Jacinta auch die sensible, weibliche Seit des Jungen akzeptiert. Thomasina, deren Tochter kurz nach der Geburt von Wayne ertrunken ist, nennt ihn dagegen heimlich Annabel. Wayne macht sich darüber keine Gedanken, denn er weiß nicht, dass er anders ist. Erst als er in die Pubertät kommt und von Bauschmerzen gequält wird, klärt ihn Thomasina während eines Arztbesuches auf, dass er ein Hermaphrodit ist. 

Die ersten 300 Seiten beschreiben die Kindheit Waynes und die Unsicherheit seiner Eltern im Umgang mit seiner Besonderheit. Dass Wayne weder eindeutig Junge noch eindeutig Mädchen ist, ist ein Tabuthema, das totgeschwiegen wird. Auch sonst sprechen die Eltern wenig miteinander und führen eine distanzierte Beziehung. 
Über die Gefühle der handelnden Figuren erfährt man wenig, was insbesondere in Bezug auf Wayne schade ist. Weder unmittelbar nach der Geburt noch im weiteren Verlauf des Heranwachsens wurde das Thema Intersexualität von den Eltern mit einander, mit Ärzten oder Psychologen diskutiert. Lange weiß Wayne selbst nicht, dass er ungewöhnlich ist und als ihm die Tatsache notgedrungen offenbart wird, hinterfragt er sie nicht oder ist gar erschüttert. Diese Nicht-Reaktion empfand ich als vollkommen unrealistisch - gerade im Alter eines verunsicherten Teenagers, die selbst unter "normalen" Bedingungen mit den Veränderungen ihres Körpers hadern. Auch blieb im Dunkeln, welche Medikamente Wayne (vermutlich zur Unterdrückung der weiblichen Hormone) einnimmt und weshalb er trotzdem seine Periode bekommt. 

Im sehr langatmigen Mittelteil entwickeln sich die Charaktere nicht wirklich weiter, es ereignet sich wenig. Die Abreise von Wayne in die größere Stadt St. John's erfolgt abrupt, nachdem ihm eine weitere Offenbarung gemacht wurde, mit der sich das Buch jedoch nicht tiefer beschäftigte, so dass diese - wenig wahrscheinliche - "Nebenwirkung" der Intersexualität an dieser Stelle reißerisch wirkte. Die Geschichte bleibt durchgehend emotionslos und beklemmend kühl. Darüber kann auch die blumige, poetische Sprache nicht hinweghelfen. 

Von dem Roman hatte ich mir eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Fragen der Identität, mit Ausgrenzung, Toleranz und Diskussionen über psychologisch fundierte Lösungswege gewünscht, wurde jedoch enttäuscht. Die Geschichte mäandert ohne klares Ziel vor sich hin und klammert viele Fragen und Details, die sich bei der Geburt eines intersexuellen Kindes unweigerlich ergeben, einfach aus. Selbst wenn man in Betracht zieht, in welcher Zeit der Roman handelt und dass die schlichte Hilflosigkeit aller Beteiligten ein wesentlicher Faktor ist, bleibt die Auseinandersetzung mit dieser Besonderheit durch das allgegenwärtige Schweigen zu oberflächlich. Erklärungen zur medizinischen Behandlung Waynes blieben genauso außen vor wie zur Entwicklung seines Körpers unter der Verabreichung von Medikamenten. Gerade in Bezug auf die Fragestellungen richtig oder falsch bzw. wann der Zeitpunkt ist, sich auf ein Geschlecht festzulegen und ob dies aus ärztlicher Sicht überhaupt erforderlich ist, wird der Leser völlig allein gelassen, weshalb der Roman meiner Meinung nach viel Potenzial in Sachen Aufklärung und Toleranz verschenkt hat. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen