Bei einem Unfall hat Antonia fast das Augenlicht verloren und danach eine einsame Entscheidung getroffen: Sie möchte die Mutter der toten Spenderin der Transplantate kennenlernen, mit denen sie wieder sehen kann. Sie hofft, so viel wie möglich über diese Frau zu erfahren, eine Malerin, jung, beliebt, schön. Und sie fragt sich, ob die Tote versucht, ihr etwas mitzuteilen. Denn seit der OP verfolgten Antonia Flashbacks. Als sie schließlich erkennt, dass sie manipuliert wird, schwebt ihre eigene Mutter bereits in Lebensgefahr. Und nur wenn Antonia sich dem Geheimnis ihrer eigenen Familie stellt, hat sie eine Chance, dem perfiden Spiel der anderen zu entkommen.
Rezension:
Antonia Petzold ist knapp 40 Jahre alt und von Beruf Entrümplerin. Bei einem Unfall in einer aufzulösenden Wohnung wird sie so schwer verletzt, dass sie zum Erhalt ihres Augenlichts eine Cornea-Transplantation benötigt. Aus Dankbarkeit stellt sie Kontakt zu den Angehörigen der verstorbenen Spenderin Susanne Martens her. Die Mutter Clara reagiert darauf und lädt Toni zu sich ein, wo diese unbedingt mehr über Zsazsa erfahren möchte. Je tiefer sie in die fremde, gut situierte Frankfurter Familie involviert wird, desto mehr wird sie von Clara vereinnahmt und schürt dabei den Hass der älteren Schwester von Zsazsa. Schon bald hat Toni nicht mehr nur mir einschüchternden Flashbacks zu kämpfen, sondern sieht sich und ihre Eltern ernsthaft bedroht. Die Familie Mertens scheint etwas zu verbergen zu haben, dass nicht ans Tageslicht kommen soll.
Der Roman wird auf zwei Zeitebenen aus der Perspektive von Toni geschildert. Er handelt in der Gegenwart im Oktober 2019 nach einem unfassbaren Vorfall und in der Vergangenheit in den wenigen Monaten zuvor, von der Hornhaut-Transplantation bis Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen.
Beide Erzählstränge sind spannend geschildert. In der Vergangenheit ist eine Bedrohung von Anbeginn spürbar, auch wenn nicht ganz klar ist, woher die Gefahr für Toni rührt. Auch ihre Flashbacks und der Umgang mit den psychischen Belastungen nach einer Organspende sind sehr eindringlich und nachvollziehbar geschildert.
In der Gegenwart bleibt zunächst offen, was sich Schreckliches ereignet hat und sodann fragt man sich, warum dies passiert und wer Schuld daran ist. Dabei ist spannend zu erfahren, ob der Einfluss der Familie Mertens so groß ist und dafür verantwortlich ist oder ob in Tonis Familie mehr im Argen liegt, als anfangs zu vermuten war.
Bis auf Toni, in die man sich gut hineinversetzen kann, bleiben die Charaktere undurchsichtig und scheinen alle ihre Geheimnisse zu haben.
Der Roman handelt von Organspenden und den Umgang der Betroffenen und ihrer Angehörigen, sowohl der Spender als auch der Empfänger. Es ist für alle Beteiligten eine psychisch belastende Situation, die im Extremfall dazu führen kann, dass die Tote in der Empfängerin wiedergesehen wird. Dabei wird vor allem auf die psychologischen Aspekte abgestimmt und ein unrealistisches Horrorszenario vermieden.
Ein weiterer Aspekt in der Geschichte, den ich in der Form nicht erwartet habe, lässt Toni nicht los und erklärt ihre Verbissenheit bei ihrer Recherche um die Verstorbene und führt sie in die dunkle Vergangenheit während des NS-Regimes und des Raubs wertvoller Kunstwerke.
Durch ihre Flashbacks, die sie zunächst als Folge der Transplantation bewertete, deckt sie zudem ein dunkles Geheimnis ihrer eigenen Familie auf und findet endlich eine Erklärung für das Verhalten ihrer Eltern in der Vergangenheit. Auch wenn das Ende tragisch, kann Toni so ihren Frieden finden.
"Die andere Tochter" ist ein komplexes und spannendes Familiendrama mit Psychothrillerelementen, das in Bezug auf beide Erzählstränge mit unerwarteten Enthüllungen überrascht. Die Geschichte zeigt, welche Auswirkungen die Vergangenheit auf die Gegenwart und nachfolgende Generationen haben kann und wie wichtig es ist, Erlebtes zu verarbeiten um von Traumata nicht unvermittelt eingeholt zu werden. Der Roman ist dabei so vielschichtig und behandelt gleich mehrere intensive Themen, dass der Plot auch für zwei Geschichten ausgereicht hätte und mir deshalb am Ende noch Fragen offen blieben, was bei einer stärkeren Fokussierung auf ein Thema hätte vermieden werden können.
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