Freitag, 9. September 2016

Buchrezension: Paula Fürstenberg - Die Familie der geflügelten Tiger

Inhalt: 

Schon als Kind hatte Johanna eine Vorliebe für Landkarten, die die Welt überschaubar machten und zugleich die Fantasie anregten. Nach dem Abitur ist sie aus der Uckermark nach Berlin gezogen, wo sie zum Ärger ihrer Mutter eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin macht, anstatt zu studieren. Mit Reiner, ihrem Ausbilder, bewegt sie sich durch das wohlgeordnete Liniennetz der Großstadt und lacht über alte DDR-Witze, ohne sie zu verstehen. Mit Karl, dem elternlosen Weltenbummler, beginnt sie eine Affäre. Ihr Vater Jens hat die Familie kurz vor dem Mauerfall verlassen, da war Johanna zwei. Außer einer Postkarte an der Wand erinnert nichts an ihn.
Doch dann ruft Jens an, und Johannas Lebenskonstrukt gerät ins Wanken. Plötzlich gibt es zahlreiche widersprüchliche Versionen seines Verschwindens. Ist er geflohen? Wurde er verhaftet? Hatte Johannas Mutter etwas damit zu tun oder gar Honeckers Krankengymnastin?

Rezension: 


Johanna ist zwei Jahre alt, als ihr Vater Jens am 4. Oktober 1989 ohne ein Wort verschwindet und sich erst 19 Jahre später durch eine Nachricht auf den Anrufbeantworter der Mutter meldet. Diese hatte Johanna all die Jahre erzählt, dass Jens die kleine Familie verlassen hat, um in den Westen zu flüchten. 

Johanna lebt inzwischen in Berlin und macht eine Ausbildung zur Straßenbahnführerin. Sie beschließt, ihren Vater zu besuchen, um endlich zu erfahren, warum er damals ohne ein Wort gegangen ist und sich auch nach der Wiedervereinigung nicht gemeldet hat. 
Jens hat Krebs im Endstadium und kann aufgrund von Metastasen schon wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung nicht mehr sprechen. Johanna versucht über ihre ältere Stiefschwester Antonia und ihre Großmutter Hilde, die überraschend noch lebt, mehr über Jens und sein Verschwinden zu erfahren. Jeder erzählt die Ereignisse im Jahr 1989 aus seiner subjektiven Sicht und formuliert eine eigene Wahrheit. Johanna ist sich auch nach mehreren zähen Gesprächen mit ihrer Verwandtschaft im Unklaren, ob Jens "einfach so abgehauen" ist, ob er sich politisch in Berlin engagieren wollte und deshalb die Uckermark verließ oder ob er tatsächlich von der Stasi verhaftet wurde. 
Sie zweifelt inzwischen jedoch ganz stark die Version der Geschichte ihrer Mutter an und befürchtet, dass diese selbst etwas mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun gehabt haben könnte. Oder hat doch ihre Großmutter Hilde, eine staatskonforme DDRlerin, für die Stasi gearbeitet und ihren eigenen systemkritischen Sohn verraten? 
Eine Unterschrift von Jens, um seine Stasi-Akte bei der BStU anzufordern, bekommt Johanna nicht mehr. 

Die Handlung spielt bis auf den Epilog im Jahr 2008, in welchem Johanna, die alleine mit ihrer exzentrischen Mutter in den letzten Jahren der DDR aufgewachsen ist, ihre Herkunft erforschen möchte. Am Ende der Kapitel wird aus vermeintlichen Stasi-Akten zitiert, wodurch der Leser in die Ereignisse im Oktober 1989 versetzt wird. 

Das Buch ist bedächtig ruhig, die Stimmung melancholisch und Johanna selbst eine leise Protagonistin, die nicht impulsiv handelt. Ihre Familie ist verschlossen, keiner scheint dem anderen zu trauen oder Wahrheiten direkt aussprechen zu wollen. Fast erhält man als Leser den Eindruck, die DDR wäre noch lebendig und das allgegenwärtige Spitzelwesen, das die Bürger verängstigt und misstrauisch macht, aktiv. 

Am Ende ist es Johanna selbst, die sich ihre eigene Geschichte um ihren Vater aus den Versatzstücken, die sie von ihren Angehörigen widerwillig erfährt, zusammenreimen muss. 
Persönlich fand ich es schade, dass Johanna bis auf das Kennenlernen ihrer eigenwilligen Verwandtschaft letztlich nicht schlauer ist, als vor Jens' Anruf zu Beginn des Romans. 

Am Ende blieben für mich mehr Fragen als Antworten, die vor allem auch durch den Epilog, der im Jahr 2011 handelt, hervorgerufen wurden. 


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