Mittwoch, 1. Mai 2019

Buchrezension: Hera Lind - Über alle Grenzen

Inhalt: 

Voller Begeisterung zieht die bayrische Familie Alexander in den späten 1950er-Jahren vom Chiemsee nach Thüringen, wo der Vater Direktor im Erfurter Zoo wird. Ein Paradies für die Kinder Lotte, Bruno und deren Schwestern. Doch dann wird die Mauer gebaut, und es gibt kein Zurück. Obwohl der musikalisch hochtalentierte Bruno gerade frisch verheiratet und Vater geworden ist, flieht er Hals über Kopf in den Westen. Er ist frei, hinterlässt aber eine geschockte Familie, deren Leben nun vollends aus den Fugen gerät. Besonders als Bruno den Vater anfleht, seiner Frau und dem Baby zur Flucht zu verhelfen. 

Rezension: 

Ende der 1950er-Jahre zieht die Familie Alexander von Bernau am Chiemsee nach Thüringen, wo Werner eine Anstellung als Zoo-Direktor in Erfurt erhalten hat. Die Kinder freuen sich auf die Tiervielfalt, der studierte Tropenmediziner und Landtierarzt auf seine neue Stelle - nur die Mutter ist traurig, ihre bayerische Heimat verlassen und in der DDR ein neues Leben beginnen zu müssen. Vom Mauerbau und der zunehmenden Abriegelung des Staats und Einschränkung der persönlichen Freiheiten konnte zum damaligen Zeitpunkt niemand etwas ahnen. 
Mit der Flucht des Sohnes Bruno beginnt für die Familie eine Abwärtsspirale, die nicht nur die Verhaftung von Bruno und später des Vaters wegen Beihilfe zur Republikflucht, sondern auch eine Bespitzelung von Brunos Schwester Lotte und ihrem bisher staatstreuen Ehemann Paul sowie einer Schikane ihrer beiden Töchter zur Folge hat. 

Erst 2010 wird Lotte ihren gebrochenen Bruder Bruno wieder sehen, der sich in einem Pflegeheim in Neumünster befindet. Ihre Liebe zu ihm ist grenzenlos und so beschließt sie, ihn zu sich nach Bayern zu holen, um sein verbleibendes Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. 

"Über alle Grenzen" ist der neue Tatsachenroman von Hera Lind, der auf persönlichen Erfahrungen mit dem Unrechtsstaat DDR bzw. mit Pflegeheimen in der Gegenwart beruht. Der Roman ist aus der Ich-Perspektive geschrieben und handelt in den Jahren 2010/2011, als sich Lotte ihrem Bruder Bruno aufopferungsvoll annimmt und blickt dabei zurück auf die Jahre 1960 bis 1985. 

Schockierend ist zu lesen, welche Auswirkungen die Entscheidung des Sohnes bzw. Bruders Bruno auf ihn als Republikflüchtling und auf die in der DDR verbliebene Familie hat. Würde der Roman nicht auf einem wahren Schicksal beruhen, könnte man kaum fassen, was die Familie von der Elterngeneration bis hin zu den Enkelkindern durchmachen muss. Die Geschichte, wie die Familie am Leid, das ihr in Form von psychischem Druck oder körperlicher Misshandlung widerfährt, zu zerbrechen droht, macht betroffen. 

Der Roman rückt die Familie Alexander in den Fokus, lässt dabei aber alle politischen Vorgänge und den Alltag in der DDR außen Acht. Ich hätte mir gewünscht, dass die Geschichte stärker in den historischen Kontext eingebunden gewesen wäre. Dies hätte bei mir vielleicht auch das Verständnis für Brunos in meinen Augen sehr egoistischen Entscheidungen erhöht. Ich empfand die Protagonisten phasenweise sehr naiv und die Darstellung etwas einseitig. Während der Teil der Protagonisten die sich für ihre Rechte und ihre Freiheit engagierten, aber auch rücksichtslos waren und die fatalen Folgen ihrer Handlungen ausblendeten, wurden die vorsichtigen und angepassteren Familienmitglieder unterschwellig mit Vorwürfen überzogen. 

Geradezu nervig empfand ich es, wie Lotte in der Gegenwart beweihräuchert wird, ihren "Burschi" verhätschelt, jedes Verhalten seinerseits sie erfreut, selbst wenn er statt in die Windel sein großes Geschäft direkt ins Pflegebett verrichtet oder die Zahnprothese mutwillig zerstört. Lotte behandelt ihren Bruder so, als würde sie ihm etwas schulden. 
Begreifen konnte ich ihr Verhalten erst, nachdem ich die Nachworte des Romans gelesen habe. Als mir klar wurde, dass die Geschichte nicht von einer Familie handelt, sondern tatsächlich die Erlebnisse von zwei verschiedenen Frauen und ihren familiären Schicksalen nacherzählt wurden, war ich etwas ernüchtert. 
Vielleicht ist dies eine Generationenfrage, aber ich empfand die Darstellung der Vergangenheit viel interessanter, aufwühlender und selbstverständlich auch spannender als die rührselige Pflege des "Burschi" in der Gegenwart. Auch wenn ich Respekt für die Schwester habe, die sich so aufopferungsvoll und selbstlos um ihren pflegebedürftigen, behinderten Bruder gekümmert hat, fand ich diesen Teil als Roman ungeeignet und letztlich überflüssig. Stattdessen hätte die Geschichte der Familie Alexander von den 1960er bis zu den 1980er-Jahren mit historischen Fakten oder einer stärkeren Involvierung der beiden anderen Schwestern in das Geschehen weiter ausgeschmückt werden können, um die Geschichte rund zu machen. 





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