Freitag, 28. Juli 2023

Buchrezension: Philipp Oehmke - Schönwald

Inhalt:

Anders als Harry findet Ruth Schönwald nicht, dass jedes Gefühl artikuliert, jedes Problem thematisiert werden muss. Sie hätte Karriere machen können, verzichtete aber wegen der Kinder und zugunsten von Harry. Was sie an jenem Abend auf einem Ball ineinander gesehen haben, ist in den kommenden Jahrzehnten nicht immer beiden klar. Inzwischen sind ihre drei Kinder Chris, Karolin und Benni erwachsen. Als Karolin einen queeren Buchladen eröffnet, kommen alle in Berlin zusammen, selbst Chris, der Professor in New York ist und damit das, was Ruth sich immer erträumte. Dort bricht der alte Konflikt endgültig auf. 

Rezension: 

Familie Schönwald - die Eltern Hans-Harald und Ruth sowie die drei erwachsenen Kinder Chris, Karolin und Benni - kommen zur Eröffnung von Karolins queeren Buchladen in Berlin zusammen. Der älteste Chris ist dafür sogar aus New York angereist. Die Eröffnung verläuft anders als geplant, als der Buchladen von Internetbloggern mit Farbbeuteln angegriffen wird, die behaupten, dass das Geschäft durch "Nazigeld" finanziert ist. Karolin hatte das Erbe ihres Großvaters herangezogen und das auch unbedarft öffentlich gemacht. Die Schuldzuweisungen überrumpeln sie und ihre Mutter streitet direkt ab, dass ihr Vater auf der Seite der Nationalsozialisten gestanden habe. Chris, der von sich selbst ablenken und verhindern möchte, dass seine Familie erfährt, dass er seine Anstellung als Professor verloren hat, stellt sich der öffentlichen Diskussion der Vorwürfe, um die Kritiker mundtot zu machen. 
Einmal in der Welt, muss sich die Familie dennoch mit den Fragen zu ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, wobei Karolin bei ihrer Suche etwas ganz anderes herausfindet. Diese Erkenntnis birgt ungeahntes Konfliktpotential, zumal nicht nur Chris, sondern alle Schönwald-Kinder Probleme haben, von denen der Rest der Familie nichts ahnt. 

Bevor überhaupt nur versucht wird, die Vergangenheit der Familie Schönwald aufzuklären, eine Kriegsschuld aufzudecken oder als falsche Anschuldigungen zu verwerfen, wird kapitelweise ein Charakter in den Fokus gerückt, so dass ein Blick hinter die Fassade der augenscheinlich glücklichen, gut situierten Familie geworfen werden kann. Jede der Figuren birgt Probleme, die sie mit sich selbst ausmacht und die sie aus Angst vor Enttäuschung oder Verlust des Respekts nicht preisgeben möchte. Diese Konfliktscheue, Sprachlosigkeit und wacklige Lügengebilde führen zu quälenden Geheimnissen und belasten die Beziehungen untereinander. 
Jeder Charakter wird dabei sehr individuell gezeichnet und die Dynamik innerhalb der Familie nachvollziehbar. Die Erzählweise erfolgt dabei nicht chronologisch, so dass etwaige Erkenntnislücken aus verschiedenen Perspektiven nach und nach geschlossen werden. 

Die Richtung, in die sich die Geschichte entwickeln wird, ist nicht vorhersehbar. Je tiefer man in die Biografien jedes einzelnen eintaucht, desto mehr Verschwiegenes wird offenbar. Während eine mögliche "Nazi-Vergangenheit" immer weiter in den Hintergrund rückt, ist weitaus spannender zu erfahren, welche offenen Konflikte innerhalb der Familie zutage treten werden, welche Reaktionen es geben wird und ob die Familie an ihren Geheimnissen zerbrechen wird. 

Die Familie gerät durch ein unvorhersehbares Ereignis in eine Situation, in der sie sich ihrer eigenen Wahrheiten stellen muss. Bisher konnte jeder einzelne den schönen Schein wahren und ein erfolgreiches und moralisch integres Bild von sich präsentieren. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass die Fassade brüchig ist und jeder Zeit in sich zusammenstürzen kann.

"Schönwald" ist ein interessantes Porträt einer westdeutschen Akademikerfamilie, in der jeder vor dem Konflikt steht, sich selbst zu verwirklichen und dabei niemanden zu enttäuschen. Der Roman handelt von vielfältigen Themen wie Missbrauch und Betrug, sexueller Orientierung, Metoo, Misogynie, Moral, Rollenbildern und Versagensängsten, die alle geschickt mit einander verwoben werden und ihren nötigen Stellenwert erhalten, um nicht zu oberflächlich zu bleiben. 
Mit einer präzisen Beobachtungsgabe und einem feinen Sinn für Humor kann die Geschichte unterhalten und einen Spannungsbogen aufbauen, ob die Familie letztlich implodiert oder an ihren unterdrückten Gefühlen, Vertuschungen und Halbwahrheiten erstickt. Der Roman weist allerdings Längen auf, wenn sich die Charaktere in ihren Gedanken zu verlieren drohen und zögern zu handeln. Auch von dem Showdown am Ende hatte ich mir ein wenig mehr versprochen. 

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