Mittwoch, 4. Dezember 2024

Buchrezension: Dunya Mikhail - Das Vogel-Tattoo

Inhalt:

Helen, eine junge Jesidin, lebt mit ihrer Familie in einem abgelegenen Bergdorf. Hier stehen die Häuser Tag und Nacht offen, und wenn Besuch erwartet wird, kommen alle Dorfbewohner zusammen. Für ihre große Liebe verlässt Helen ihr Heimatdorf, um im nahen Mosul eine Familie zu gründen. Doch als der IS über das Land zieht, verschwindet Helens Mann. Beim Versuch, ihn zu finden, lässt sie ihre Kinder zurück und gerät selbst in die Hände der Terrororganisation. 

Rezension: 

2003: Helen ist eine junge Jesidin, die mit ihrer Familie in einem abgelegenen Bergdorf im Nordirak lebt. Als sie einen Vogel aus Gefangenschaft befreit, lernt sie den Fallensteller Elias kennen. Er verspricht von den Vögel abzulassen und besucht Helen mehrfach in dem Dorf, wo er von ihrer Familie herzlich aufgenommen wird. Die beiden verlieben sich ineinander und auch wenn Helen bereits einem reichen Händler versprochen ist, entscheidet sie sich für eine Ehe mit Elias, der verwitwet ist und bereits einen Sohn hat. 
Elias findet eine Anstellung als Journalist, doch als die Daesh 2014 die Macht über das Land ergreifen, wird er gefangen genommen und die schwangere Helen muss sich von ihren beiden Söhnen trennen. Helen selbst wird entführt und verkauft. Nach zahlreichen brutalen Übergriffen gelingt ihr die Flucht und die Rückkehr zu ihrer Familie. Doch Elias ist weiter vermisst und ihre beiden Söhne werden zu Mudschaheddin ausgebildet. 

Der Roman ist zeitlich nicht chronologisch aufgebaut und beginnt mit der Gefangenschaft von Helen, die wie Vieh auf einem Markt verkauft wird und als Sexsklavin den Männern des Daesh (besser bekannt als Islamischer Staat - IS) dienen muss. 
Als Kontrast erfolgt ein Rückblick auf das Kennenlernen von Elias und die junge Liebe, die in arabischer Manier poetisch geschildert ist und bildhaft das friedfertige Leben in dem Bergdorf beschreiben, in dem man sich ein Jahrhundert zurückversetzt fühlt, in dem man sich mit Pfiffen unter den Nachbarn verständigt und wo ein Radio als "Zauberkästen" gilt. 

Jäh wird das Glück nach mehreren Jahren durch den Terror des IS unterbrochen, der die Kontrolle über Mossul übernimmt und den Völkermord an den Jesiden beginnt. Besessen von der Vorstellung der Errichtung eines Kalifats geht der IS unter Vorschiebung religiöser Gründe brutal gegen die Bevölkerung vor. Männer und Frauen und sogar Kinder werden von ihren Familien getrennt, junge Männer zwangsrekrutiert, Frauen entführt und Männer verschleppt. Wer Fragen stellt oder sich widersetzt, wird hingerichtet. 

Der Roman wird aus verschiedenen Perspektiven geschildert und stellt dadurch verschiedene Schicksale heraus. Anknüpfungspunkt bleibt dabei stets Helen und ihre Familie, auch wenn die Zahl der handelnden Personen und familiären Zusammenhänge fordernd ist und man als europäische(r) LeserIn die Örtlichkeiten und Dimensionen im Nordirak und Syrien nicht so klar vor Augen hat. 

Anschaulich wird der Kontrast des friedlichen Lebens und der Machtübernahme des IS, die Grausamkeiten, der Terror und die menschlichen Tragödien mit samt der Gehirnwäsche an den Rekruten beschrieben, ohne bei der Verletzung der Menschenrechte zu sehr ins Detail zu gehen. 

Trotz der Grausamkeiten und der Kenntnis über die nach wie vor angespannte politisch-religiöse Situation im (Nord-)irak, bleibt ein Gefühl von Hoffnung. Die Charaktere sind mutig und geben nicht auf. Sie glauben daran, mit ihren Familien vereint zu werden und sind ausdauernd, kreativ, bilden Netzwerke und halten solidarisch zusammen. 

Das Buch zeigt ungeschönt Leid, wie es vergleichbar mit der Judenverfolgung im Dritten Reich war. Es gibt damit ein anschauliches und berührendes Bild über die Situation in einem Land, das von anhaltenden Konflikten geprägt ist, das weit entfernt ist und das wir sonst nur aus den Nachrichten kennen. 
 

Montag, 2. Dezember 2024

Buchrezension: Nadine J. Cohen - Gute Gründe

Inhalt:

Yael hat Nein gesagt. Nein zum Leben. Nun soll sie lernen, Ja zu sagen. Dabei will sie nur, dass man sie in Ruhe lässt. Denn sie sieht keinen Grund, Ja zu sagen. Wozu auch immer. Doch ihre Schwester lässt nicht locker. Nadine J. Cohen erzählt von Yaels Suche nach Gründen, für die es sich zu leben lohnt, und wie sie sie dort findet, wo sie sie niemals vermutet hätte: einer unkonventionellen Freundschaft, beim Meeresschwimmen vor Sonnenaufgang, unfassbar großen Mengen Speiseeis, trashiger Erotikliteratur … und immer wieder in der tiefen Bindung zu ihrer Schwester.  

Rezension:

Yael erleidet mit Anfang 30 einen mentalen Zusammenbruch und versucht sich zu umzubringen. Sie wollte die Traurigkeit ein für allemal beenden und niemandem mehr zur Last fallen. Nun wird sie weiterhin ambulant von ihrer Therapeutin betreut und erhält zudem Unterstützung von ihrer älteren Schwester Liora, die ihr seit dem Tod der Eltern sehr nahesteht.
Der Roman erzählt in der Gegenwart das Jahr nach Yaels Zusammenbruch und wie sie sich zurück ins Leben kämpft. Daneben gibt es zahlreiche Rückblenden in die Vergangenheit, die mehr Aufschluss darüber geben, was die Gründe für ihre Depression und ihren fatalen Schritt mit Tabletten ihr Leben zu beenden, sein können. Die Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit erfolgen willkürlich, die Abschnitte sind kurz, oftmals nur wenige Sätze lang.
Yael hat mehrere Verluste in ihrem jungen Leben erlitten, eine toxische Beziehung hinter sich und ist als Jüdin von dem Holocausttrauma ihrer Großeltern-Generation belastet. Neben den äußeren Faktoren kommt eine erbliche Vorbelastung für psychische Erkrankungen hinzu.

Die Geschichte ist lebendig geschrieben und auch wenn Yaels Depression zentral und ihr Weg zu einer Heilung (sofern es die überhaupt gibt) noch lange ist, ist der Roman nicht betrüblich. Trotz Yaels Traurigkeit und ihren Schuldgefühlen blitzt vor allem in den Dialogen immer wieder ihr Humor und ihre Selbstironie auf.
Die Darstellung von Yaels Erkrankung ist authentisch, ihre Gefühle und Gedanken können eindrücklich nachempfunden werden. Es ist spürbar, dass die Autorin eigene Erfahrungen einbringt und sehr genau weiß, wovon sie schreibt.
Die Einblicke in das jüdische Leben der Familie machen die Figuren dabei noch lebensechter.

Ein Lichtblick sind die Kontakte, die Yael zu anderen Menschen pflegt, in erster Linie die Beziehung zu ihrer Schwester und deren Kinder, aber auch die Entwicklung der Freundschaft zu der lebensälteren Shirley, die sie im Frauenschwimmbad kennenlernt. Überhaupt sind alle Charaktere liebenswert und sympathisch. 

"Gute Gründe" handelt von generationenübergreifenden Traumata, von Trauer, Verlusten und psychischen Erkrankungen, aber auch von Schwesternschaft, Familie und Freundschaft und zeigt damit, wofür es sich zu leben lohnt. Die Balance aus Melancholie und Humor ist stimmig und stimmt insgesamt hoffnungsvoll.