Mittwoch, 7. September 2022

Buchrezension: Kristin Harmel - Das Verschwinden der Sterne

Inhalt:

Seit sie als kleines Kind aus ihrem Elternhaus entführt wurde, ist Jona fast auf sich allein gestellt in der unerbittlichen Wildnis Osteuropas aufgewachsen. 1942 trifft sie tief im Wald auf eine Gruppe Juden, die den Nazis entkommen konnten. Jona ist fassungslos, als sie erfährt, was in der Welt geschieht. Sie bringt den Flüchtlingen alles bei, was sie über das Überleben abseits der Zivilisation weiß. Doch dann treibt ein bitterer Verrat Jona zur Flucht. Als sie sich ausgerechnet in einem von den Deutschen besetzten Dorf wiederfindet, muss sie sich einer Erkenntnis stellen, die ihr ganzes Leben verändert: Sie ist nicht die, die sie zu sein glaubte. 

Rezension: 

Jona wurde 1922 im Alter von zwei Jahren von einer alten Frau entführt, die sie von Berlin mit in die Wälder Osteuropas, zwischen Polen und Belarus gebracht hat. Dort lernt sie von ihr das Überleben in der Wildnis, bis diese im betagten Alter von 104 Jahren stirbt. Der Zweite Weltkrieg ist inzwischen ausgebrochen und Jona ahnt nichts von den Gräueltaten, die sich durch die Invasion der Deutschen in den nahgelegenen Orten ereignen. Sie trifft auf Juden, die in ihrer Verzweiflung in den Wald geflüchtet sind und erfährt auf diese Weise vom Holocaust. Sie beschließt, der Gruppe zu helfen und ihnen das notwendige Wissen zum Überleben beizubringen. Jona verliebt sich in deren Anführer, wird jedoch nie vollständig in die Gemeinschaft integriert. Nach einer herben Enttäuschung verlässt sie die Gruppe und möchte sich auf den Weg nach Berlin zu ihren Eltern machen, um endlich mehr über ihre Wurzeln zu erfahren. Dabei macht sie Halt in einem Dorf, das von Deutschen besetzt ist und trifft auf den Feind. 

"Das Verschwinden der Sterne" ist inspiriert von wahren Geschichten polnischer Juden, die während des Zweiten Weltkrieges vor den Deutschen in die Wälder Osteuropas geflüchtet sind und dort überlebten. Die Figur der Jona, die in der Geschichte etwas mystisch wie ein rettender Engel wirkt, ist jedoch rein fiktiv. 

Die Geschichte ist anders als die Romane, die ich bisher von Kristin Harmel gelesen habe, die von Romantik und bewegenden Familiengeschichten geprägt waren. "Das Verschwinden der Sterne" liest sich in der ersten Hälfte wie ein Abenteuerroman über das Überleben in der Wildnis. Jona ist dort aufgewachsen und kennt das Leben in der Zivilisation nicht, hat von ihrer Entführerin jedoch alles gelernt, was man zum Überleben braucht. Zudem hat sie Kenntnisse über das Judentum und spricht verschiedene Sprachen fließend. Jona ist eine gutherzige, hilfsbereite Heldin, die sich trotz ihres Lebens in der Isolation für andere Menschen einsetzt und ihnen bereitwillig hilft. Ob da auch die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft mitschwingt, wird nicht deutlich. Es fällt überhaupt schwer, sich in Jona hineinzuversetzen und ihre Gefühle nachzuvollziehen. Die Entführung klingt wenig plausibel, für das Handeln der alten Dame fehlt eine Erklärung. 

Die Geschichte wirkt distanziert, die Einzelschicksale können nicht wirklich berühren. Auch bleiben einige Fragen offen, wie Jona nach zwanzig Jahren in der Wildnis so menschlich, zivilisiert, gebildet und ohne jegliche Scheu auftreten kann. 
Der historische Kontext tritt bei der Beschreibung des Überlebens im Wald in den Hintergrund. Die Tatsache, dass Krieg herrscht und dass es sich bei den Menschen um flüchtige Juden handelt, spielt eine untergeordnete Rolle. Ihr Leben auf der Flucht hätte jeden anderen Grund haben können. Durch die andauernde Gefahr und die dadurch immer wiederkehrenden gleichförmigen Tätigkeiten beim Auf- und Abbau der Lager und bei der Suche nach Nahrung hat der Roman einige Längen. 
Erst als Jona in der Zivilisation angekommen ist, konnte mich das Buch mehr packen, auch wenn die Verbindung von Vergangenheit und der gegenwärtigen Situation durch einen gewaltigen Zufall reichlich konstruiert wirkt. Die Gräueltaten der Deutschen sind jedoch eindringlich geschildert und auch der Heldenmut der Dorfbewohner, auf die Jona trifft berührt und zeigt, dass selbst in dunklen Zeiten Lichtblicke, Hoffnung und Menschlichkeit herrschen können. 
Aufgrund einiger Ungereimtheiten und der schon annähernd märchenhaften Geschichte konnte mich das Buch jedoch nicht in Gänze überzeugen. Die Anmerkungen der Autorin am Ende des Romans zeichnen dagegen ein erstaunliches Bild, dass Tausende Juden tatsächlich unerkannt aus den Ghettos in die polnischen Wälder flüchten konnten.   

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen