Mittwoch, 9. September 2015

Buchrezension: Toni Jordan - Tausend kleine Schritte

Inhalt:

Grace Lisa Vandenburg zählt alles, was sie umgibt, jede Kleinigkeit: die Schritte bis zu ihrem Lieblingscafé (920), die Streusel auf ihrem Orangenkuchen (12 – 92) und die Buchstaben ihres Namens (19). Erst Seamus O’Reilly und sein unwiderstehlicher Wunsch, hinter das Geheimnis ihres Lebens zu kommen, lässt sie die Kontrolle verlieren.

Rezension:

Grace ist 35 Jahre alt, lebt in Melbourne und führt ein bis ins kleinste Detail strukturiertes und geplantes Leben. Bis zu ihrer Arbeitsunfähigkeit hat sie als Lehrerin gearbeitet. Seitdem sind ihre Tagesabläufe nahezu identisch, auch ihre Mahlzeiten sind tagein, tagaus die gleichen. Ihr Zuhause verlässt sie für den Gang in den Supermarkt, wo sie stets dieselben Artikel kauft, und für Besuche in ihrem Stammcafé, wo sie immer ein Stück Orangenkuchen, zwei Marshmallows und eine Tasse Heiße Schokolade bestellt. Sonntags telefoniert sie immer um 20 Uhr mit ihrer Mutter, anschließend mit ihrer Schwester Jill.

Bei ihren täglichen Verrichtungen spielen Zahlen bzw. das Zählen eine entscheidende Rolle. So muss sie im Supermarkt stets zehn Sachen eines Artikel kaufen - fünf Doppelpackungen Joghurt, zehn Bananen oder zehn Flaschen Shampoo. Auf dem Orangenkuchen im Café zählt sie die Mohnstreusel, wobei anhand der Anzahl entscheidend ist, in wie viele Stücke sie den Kuchen teilt.

Die genauen Vorgaben geben Grace Sicherheit. Dann lernt sie Seamus kennen, dem sie im Supermarkt eine Banane klauen musste, da in ihrem Einkaufswagen nur neun lagen, und neben Tage später der einzige Platz im Café frei war.

Seamus ist fasziniert von der intelligenten Frau, andererseits ist er auch von ihren seltsamen Verhaltensweisen irritiert. In ihrer Wohnung entdeckt er Inventarslisten in den Schränken, ein Lineal neben ihrer Zahnseide, Striche an Gläsern, Messbecher in der Dusche,...
Er unterstützt Grace darin, eine Verhaltenstherapie zu beginnen und einen Psychologen aufzusuchen. Benebelt von Psychopharmaka denken von nun an Gehirn 1 und Gehirn 2 in ihrem Kopf, die miteinander kommunizieren. Auch wenn Grace durch die Medikamente mit dem Zählen aufhört, und sie augenscheinlich ein befreiteres Leben führt, hat sie ihre eigene Persönlichkeit verloren.

In "Tausend kleine Schritte" erhält man einen anschaulichen Eindruck vom Leben einer Zwangsneurotikerin. Als Außenstehender ist es schwer nachvollziehbar, warum sich ein Mensch scheinbar freiwillig selbst geißelt und in ein derartiges Korsett aus Regeln steckt.
Grace ist eine erwachsene, intelligente Frau, die gefangen in ihren Zwängen das eigentliche Leben vergisst. Auch wird deutlich, dass sie aus ihrem eigens geschaffenen Gefängnis ohne fremde Hilfe nicht heraus kommt. Seamus schafft es, sie zu einer Therapie zu bewegen, was in diesem Roman aber sehr einfach erscheint.
Dem Leser stellt sich zudem bald die Frage, ob Graces Leben ohne Neurosen, aber voll gepumpt mit Psychopharmaka eine lebenswerte Alternative ist.

Das ernste Thema einer psychischen Erkrankung wird durch die witzigen Situationen, in die Grace durch ihre Zwänge gerät, in dem Roman unterhaltsam umgesetzt, ohne die Krankheit ins Lächerliche zu ziehen oder zu verharmlosen. Es ist eine Tragikomödie mit einer zarten Liebesgeschichte um eine sympathische Protagonistin, der man wünscht, den Teufelskreis aus Zwängen und Zählen zu bekämpfen, um frei leben zu können.
Auch wenn ich mir ein anderes Ende für Grace gewünscht hätte, ist "Tausend kleine Schritte" ein sehr lesenswerter Roman!


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